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Im Schatten des Kreml

Im Schatten des Kreml

Titel: Im Schatten des Kreml
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für sie realer als klaffende Wunden, vergossenes Blut und verkohlte Knochen – all das, was die Konsequenzen der Luft-Boden-Rakete sind, die auf mein Kommando abgefeuert wird.
    »Check«, sagt einer der Techniker und bestätigt, dass die Koordinaten eingegeben sind.
    »Check«, ergänzt ein anderer und legt die Schalter um, um die Rakete schussbereit zu machen, eine Kh-35U mit hundertfünfundvierzig Kilogramm Sprengstoff, wie mir die Generalmajorin erklärt hat.
    Matthews tritt einen Schritt zur Seite, die Hände tief in den Taschen vergraben. Er sieht mich nicht an und starrt Stattdessen nachdenklich auf die Videospielkonsole, während die Generalmajorin eine Hand über ihren Ohrknopf hält und aufmerksam zuhört. Offensichtlich kann sie das gequält flüsternde Krächzen am anderen Ende der Leitung im entfernten Kreml kaum verstehen.
    Ich muss seine Stimme nicht hören, um zu wissen, dass von ihm weiterhin grünes Licht kommt. Konstantin, der alterslose Kalte Krieger steht am Altar geopolitischer Macht: Die polygame Ehe von Russland, China und Amerika gefestigt zu haben, ist sein großes Verdienst. Abreg stellt einen Unsicherheitsfaktor in einer Gegend dar, die nach Konstantins Plänen nicht mehr instabil sein darf. Außerdem ist es wahrscheinlich, dass er sich ausgerechnet mit Konstantin zusammengetan hat, um die Vereinigung der tschetschenischen Stämme zu verhindern. Abreg ist vermutlich tot, bevor ihm das klar wird, aber er hat einen Pakt mit einer geflügelten Schlange geschlossen.
    Einen Augenblick später nickt die Generalmajorin und sagt: »Positiv.« Sie nimmt ihr Headset ab und sieht mich an, ihr geschminktes Gesicht leuchtet im elektronischen Glühen der Monitore. »Alle Seiten haben dem Schlag zugestimmt. Wir haben jetzt noch vier Minuten, bevor das Signal endet.«
    Die Aufnahmen auf den Bildschirmen verschieben sich, während die Drohne ihre Position über dem Ziel einnimmt. Der leuchtende Punkt pulsiert rhythmisch. Eine Technikerin murmelt etwas in ihr Headset. Matthews räuspert sich, aber es klingt nicht ungeduldig, eher so, als säße ihm ein Kloß im Hals. Ich rühre mich nicht.
    Die floskelhafte Rhetorik, mit der solche Entscheidungen gerechtfertigt werden – ein Präventivschlag gegen nuklearen Terror, die Exekution eines Kriegsverbrechers – , wird der Natur der Sache in keiner Weise gerecht. Man hätte den Menschen im Nordkaukasus schon vor langer Zeit ihre Unabhängigkeit schenken sollen, dann hätte sich niemand an diesem Krieg beteiligt, es sei denn aus Motiven, die schon immer Aggressionen erweckt haben – Religionen, Ruhm und Gold. In diesem Fall schwarzes Gold.
    Was heute geschieht – diese Entscheidung, dieser Akt der Gewalt – , wird vergessen sein, sobald wir diesen Raum verlassen. Weder die hier versammelten Techniker noch ihre Kommandantin wissen oder interessieren sich dafür, wen die Rakete trifft.
    »Noch drei Minuten«, sagt eine körperlose Stimme.
    Und während die Worte verklingen, erinnere ich mich plötzlich deutlich an meine Unterhaltung mit Abreg, die, von der er auf unserem Ritt durch die eiskalten Berge sprach. Es kommt mir vor, als wäre ich wieder dort, zurück in der Grube, halb tot vor Hunger und Schmerzen.
    Du hast eine Menge Cargo 200 in deinem Kielwasser , Volkovoj.
    Das war das, was er vor drei Tagen gesagt hat, aber dasselbe sagte er auch vor etlichen Jahren, am Rand der zindan, seine Gestalt kaum zu erkennen, wenn ich nicht die Augen gegen das Licht zusammenkniff, das ihn mit einem leuchtenden Halbschatten umgab.
    Ich glaube nicht, dass ich auf seine Bemerkung einging-
    »Kannst du mich hören, Volkovoj? Sie wollen dich fertigmachen, und ich kann sie nicht länger aufhalten.«
    Das Kinn sank mir auf die Brust. Ich war so gleichgültig, wie nur ein geschlagener Mann es sein kann. Aber Abreg redete einfach weiter, und mit der Zeit schien es mir, als spräche er mit jemandem, den nur er sehen konnte.
    »Das bin nicht ich, Volkovoj. Du – du bist, was du bist. Ich bin nicht in der Lage, über dich zu urteilen. Aber ich kenne mich selbst. Ich weiß, wer ich bin. Und ich sollte nicht hier sein!«
    Die Veränderung in seinem Tonfall ließ mich aufschrecken. Ich blickte hoch und sah ihn dort oben im Licht vor und zurück schwanken, als versuche er zu fliehen. Aber ich schaffte es nicht, den Kopf weiter hochzuhalten, also ließ ich ihn wieder sinken.
    »Volkovoj! Hör mir zu! Ihr habt die Welt zu dieser Hölle gemacht. Das ist euer Werk. Russland hat dieses
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