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Im Saal der Toten

Im Saal der Toten

Titel: Im Saal der Toten
Autoren: Linda Fairstein
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verdienen muss.«
    Phelps war beiseite getreten und befahl mir, weiter Steine zu schleppen. Das Polizeiauto war verschwunden.
    »Identifizieren Sie sich mit Poe?« In der psychiatrischen Literatur gab es einen Fachausdruck dafür, der mir aber jetzt vor lauter Angst nicht einfiel.
    »Ich bin nicht töricht genug zu denken, dass meine Werke mit seinen mithalten können, aber er war immer, wie soll ich sagen, meine Inspiration.«
    »War er der Grund, dass Sie Aurora umgebracht haben?«
    »Nicht im Geringsten. Ich hatte meine eigenen Gründe. Er hatte sich nur die brillanteste Methode ausgedacht. Es erregt mich noch immer, wenn ich daran denke. Was wohl ihre letzten Gedanken waren, als sie merkte, dass ich sie lebendig einmauerte?«
    Der Stein rutschte mir aus der Hand. Meine Konzentration ließ nach.
    »Jedes Mal wenn man mich beleidigt hat, bei jeder Zurückweisung, bei jeder Niederlage tröstete ich mich mit dem Gedanken, dass Poe ähnliche Schwierigkeiten hatte und dennoch der größte Schriftsteller seiner Zeit war.«
    Ich dachte an die tragischen Ereignisse, die Poes Leben von Anfang an bestimmt hatten. Seine Seelenqual hätte ihn gut und gern zu einem Monster, einem Serienmörder machen können. Wenn man Aaron Kittredge glaubte, dann war es wohl auch so. Mit jeder Sekunde, die ich mit Phelps verbrachte, erschien mir das plausibler.
    »Habe ich für meine erfolgreiche Wiedereingliederung in die Gesellschaft etwa kein Lob verdient, Miss Cooper? Nach Auroras Tod war ich lange Zeit – na ja, fast ein Musterbürger.«
    »Bis Sie Emily Upshaw umgebracht haben.«
    »Emily wusste zu viel.« Phelps seufzte. »Nachdem die Presse so großes Interesse an dem Skelett zeigte, wäre es nur eine Frage der Zeit gewesen, bis sie mich verpfiffen hätte.«
    »Kannte sie Sie als Phelps?«
    »Den Namen benutzte ich damals noch nicht«, sagte er. »Aber sie wusste, wer mein Stief… – na ja, wie auch immer Sie ihn nennen wollen. Sie kannte meine Lebensgeschichte.«
    Damit sind wir bei Dr. Ichiko, dachte ich, während ich den nächsten Stein ablegte. Zweifellos hatte der Psychiater aus seinen alten Patientenakten rekonstruiert, wer »Monty« war.
    »Dr. Ichiko?«, fragte ich.
    »Der Mann war nicht sehr schlau. Informationen sind wertlos, wenn man sie nicht richtig einsetzt. Dr. Ichiko hatte einfach Pech.«
    »Er war schlau genug, Sie zu identifizieren«, sagte ich und wischte mir den Staub aus den Augenwinkeln.
    »Teilweise. Er wusste genug, um nach jemandem namens Phelps zu suchen. Er erinnerte sich an meine Vorliebe für Poe – eine Form der ›Übertragung‹, sagte er damals. Er stellte Nachforschungen an und wollte sich beim Rabenverein erkundigen, ob es ein Mitglied dieses Namens gab. Für Manhattan ist unter dem Eintrag des Vereins Zeldins Nummer aufgelistet, Miss Cooper. Aber im Bronx-Telefonbuch steht die Nummer der Tabakmühle. Als er hier anrief, ging zufällig ich ans Telefon. Als ich hörte, um was es ging, gab ich mich als der große Zeldin aus und lud ihn hierher ein, um mit ihm über seine brillante Entdeckung zu sprechen. Er hätte besser aufpassen müssen.«
    Sobald der Stein einmal ins Rollen gekommen war, konnte Sinclair Phelps nicht mehr aufhören – aus Angst, dass ihn jemand in seinem Refugium finden könne. Jemand, der Aurora oder Emily kannte, der sein ruhiges Leben enttarnen und seine Traumwelt kaputtmachen könnte.
    »Warum haben Ihre jungen Schläger heute Nachmittag Ellen angegriffen? Was hatte das zu bedeuten?«
    »Ehrlich gesagt, hatten sie den Befehl, Sie anzugreifen, Miss Cooper. Ich hatte keine Ahnung, dass sie so kreativ wären, jemanden in diese schreckliche Pflanze zu schubsen, aber sie sind wohl nie um Einfälle verlegen. Ich hatte ihnen nur gesagt, dass Sie die Frau sind, die die Fragen stellt – die allzeit neugierige Alexandra Cooper.« Phelps schüttelte den Kopf. »Wie ich gehört habe, waren Sie heute ungewöhnlich ruhig. Die Jungs haben Sie einfach verwechselt.«
    Die Steine reichten mir mittlerweile bis zur Taille. Ich hatte nicht mehr viel Zeit.
    Vor der Höhle sah ich mich wieder nach Hilfe um. Ich griff in meine Hosentasche und bemerkte zum ersten Mal, dass ich meine Handschuhe nicht in meinem Anorak in Phelps Haus gelassen hatte. Etwas piekste mich, als ich die Hand zurückzog, und ich verzog vor Schmerzen das Gesicht.
    An den Wollhandschuhen klebten ein paar Blätter der Pflanze, deren Stacheln ich Ellen aus dem Gesicht gezogen hatte. Ich hatte die tückischen Blätter
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