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Im Papierschiff bis nach Irland (German Edition)

Im Papierschiff bis nach Irland (German Edition)

Titel: Im Papierschiff bis nach Irland (German Edition)
Autoren: Gabriele Kowitz
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Grund, aus dem du diese Bleistiftstummel gekauft hast?" Verzweifelt
suche ich nach einer plausiblen Erklärung, einem vernünftigen Hintergrund für
diesen unsinnigen Kauf. Allmählich merke ich, wie sich mein gerade noch
geschmolzenes Mutterherz abkühlt und stattdessen mein Blut wütend der
Kochtemperatur entgegenblubbert. "Mein Tischnachbar hatte sie im Angebot
und ich wollte sie abkaufen. Abkaufen ist in, das machen alle." OK, kaufen
ist in. Frühstücken ist out. Das muss ich erst mal verdauen. Ich bin froh, dass
mir augenblicklich mein Mittagessen nicht im Hals stecken bleibt, denn gerade
jetzt fällt mir auf, dass mein kleiner Unschuldsengel schon vor Schulbeginn
ganz bewusst geplant haben muss, das Geld, das ich ihm für die Brötchen gab,
entgegen meiner Anweisung nicht für Brötchen sondern für etwas anderes auszugeben:
Der Bäckerladen befindet sich außerhalb des Schulgeländes. Das bedeutet, dass
man sich vor Schulbeginn mit Backwaren eindecken muss, wenn man denn überhaupt
welche haben möchte, denn wenn die Kinder erst einmal auf dem Schulgelände
sind, dürfen sie es erst nach Schulschluss wieder verlassen – von wegen
Aufsichtspflicht und so. Jetzt werde ich richtig sauer. Ich sage Hü und er
macht Hott! Ich gebe ihm zweckgebunden Geld und er gibt es für andere Dinge
aus. Für Firlefanz. Das ist Veruntreuung! Soll er sich den Schrott doch von
seinem Taschengeld kaufen! Das ist es: Ich sollte ihm die fünfzig Cent vom
Taschengeld abziehen, damit er einsieht, dass er keinen Unsinn kauft. Damit er
erkennt, dass er mit meinem Geld nicht machen kann, was er will.
    Unser Mittagessen
verläuft extrem wortkarg. Bevor mein Sohn in sein Zimmer entschwindet
(hoffentlich um Hausaufgaben zu machen?), kündige ich an, dass wir über die
IKEA-Bleistift-Aktion später noch zu reden hätten. Ich bin noch unschlüssig, ob
ich ihn mit Taschengeldminderung strafen soll. Lächerlich, dass ich mich über
so eine Kleinigkeit ärgere! Kleine Kinder, kleine Sorgen. Andererseits will ich
nicht warten, bis es um größere Summen geht. Große Kinder, große Sorgen. Mein
Sohn will halt in sein, kein Outsider oder Loser, verständlich. Er verhält sich
vollkommen normgerecht. Außerdem gibt es da den Gruppenzwang, alle kaufen ab.
Ich stelle mir vor, wie er als Teil einer Hammelherde laut mähend mit den
beiden Bleistiften als Hörnchen über eine Wiese läuft ... Das Lächeln, das sich
in mein Gesicht schleichen will, gefriert bei meinem nächsten Gedanken
umgehend: Er wurde über's Ohr gehauen mit diesen Stummelbleistiften,
ausgenutzt. Das ist nicht in, sondern gemein und dumm. Bestimmt wird er von den
anderen Kindern gemobbt, weil er sich so dumm anstellt. Vielleicht hat er aber
vor, die Stummelbleistifte wieder zu verkaufen, vielleicht sogar zu einem
höheren Preis, das ist dann gar nicht mehr dumm, sondern geschäftstüchtig.
Schon sieht mein geistiges Auge meinen Sohn als eiskalten Manager im dicken
Cabrio ... Wieder verspüre ich ein leichtes Zucken um die Mundwinkel, das sich
jedoch in keine bestimmte Richtung entwickeln kann, denn in meinem Kopf
verdichtet sich der nächste Gedanke: Ich gab ihm das Geld nicht, um damit zu
zocken. Womöglich endet er irgendwann in einer Spielhölle, steht stundenlang
vor so einem einarmigen Banditen ... Andererseits kann ich noch froh sein, dass
er sein Kakaogeld nicht im Supermarkt versetzt hat! Da gibt es zwar keinen einarmigen
Banditen aber bekanntlich jede Menge Süßigkeiten. Das würde ich wirklich
"Veruntreuung" nennen und mir mit Taschengeld zurückzahlen lassen.
Definitiv! Normgerechtes Verhalten mag ab und zu angehen, aber selbst wenn alle
ihr Kakaogeld im Supermarkt lassen, sollte man es (das Hammelherdengelaufe) bei
Zeiten hinterfragen. Das ist der Moment, in dem die schwarzen Schafe ins Spiel
kommen. Die Schafe mit einer eigenen Meinung. Eine eigene Meinung finde ich
wichtig, auch für Achtjährige. Auch wenn man sich damit schon mal unbeliebt
macht.
    Langsam mache ich
mir weniger Sorgen um mein Kind sondern viel mehr um meine hin- und
herspringenden Gedankengänge, sie zeigen deutlich politische Züge und juristische
und ethische und pädagogische. Wo bleiben meine praktischen Überlegungen? Eigentlich
sollte ich meinem Sohn dankbar sein, dass er die IKEA-Bleistifte von seinem
Tischnachbarn gekauft hat. Dadurch habe ich enorm viel Geld gespart. Ich stelle
mir vor, ich fahre bei den heutigen Spritpreisen 50 km nach IKEA, nur um dort 2
Bleistifte zu kaufen. Wie teuer
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