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Im Namen Des Schweins

Titel: Im Namen Des Schweins
Autoren: Pablo Tusset
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Neonbeleuchtung, Stapel mit Müllsäcken, auf denen feiner Staub liegt und eine Werbung mit Michael Jordan, die über dem U-Bahn-Eingang in der Franklin Street für Kleidung wirbt … Durch den Staub sind nur die unteren Stockwerke der Gebäude zu erkennen, der Rest verschwimmt in der Dunkelheit. Er läuft die Sixth Avenue entlang auf Höhe der allein stehenden Häuser und Schweineställe, folgt dann dem Weg, der vom Ort weg und am Lauf des eiskalten Bachs längs führt. Hinter den letzten niedrigen Steinhäusern, die sehr viel einfacher sind als die in Midtown, taucht die Ruine einer alten Mühle auf. Das Dach fehlt. Die Mühle ist voll mit Schnee wie ein Sahnebecher. Dahinter kommt eine Steinbrücke, die über den reglosen Bach führt, gleich darauf die Gabelung mit der Piste, die zum Wald hoch führt, ohne an Breite zu verlieren.
    Unter dem Himmel ist jetzt alles schwarz. Es ist hoffnungslos, sich zu orientieren. Es gibt nur die Erinnerung und die Schwerkraft, die zeigt, wo oben und unten ist. P fängt an hochzulaufen, dorthin, wo die Anstrengung beim Laufen größer wird, wobei er die Hand ausstreckt wie ein Blinder. Er benutzt sie wie eine Stoßstange, falls irgendein Hindernis auftauchen sollte. Aber der Marsch über den Schnee geht so schleppend voran, dass Hindernisse keine Rolle spielen.
    Undeutlich sieht er im verschwommenen Funkeln des Mondes den Turm eines Industriegebäudes, das sich in die dichte Vegetation zu ducken scheint wie ein notgelandetes Raumschiff. Aber es geht weiter bergauf: P immer vorneweg. Er keucht und schwitzt. Die Fußzehen spürt er schon nicht mehr und über der Lippe hat sich eine Kruste aus gefrorenem Atem gebildet. T läuft in seinem feinen Jackett und dem Hugo-Boss-Hemd immer ein paar Schritte hinter ihm her. P sieht ihn nicht, wenn er über die Schulter schaut, hört ihn aber trällern, als würde er an einem Frühlingsnachmittag eine Landpartie unternehmen.
    Als er um die nächste Biegung kommt, ist die Silhouette vom Horlá zu erkennen: ein Kopf, der auf zwei Schultern sitzt, in schwaches Mondlicht gekleidet. P läuft weiter bergauf, jeder Schritt wird erst sacht probiert, bevor er den nächsten stützt. Sein Zeitgefühl ist vollends abhandengekommen. Er weiß nicht einmal mehr, wie lang er schon durch den Schnee stapft. Jahre scheinen vergangen zu sein, seit dem letzten Ereignis, an das er sich klar erinnert: ein Auto, hinter den Fensterscheiben ist es dunkel, feiner Regen: »San Juan del Horlá, sind Sie sicher, dass Sie nicht lieber eine kleine Runde mit mir drehen möchten?« Alles andere ist ein Albtraum, der nun auf seinen Höhepunkt zusteuert, an dem man normalerweise verschreckt aufwacht.
    Aber er wacht nicht auf, weil er gar nicht schläft, obwohl er so müde ist, dass er für einen Augenblick verzweifeln könnte. Er weint über seine Machtlosigkeit und versucht, die Tränen mit dem Kragen des Pullovers abzutrocknen, bevor sie ihm in den Augen gefrieren. Er sucht Trost in der weiter zurückliegenden Vergangenheit. Er erinnert sich daran, wie er auf dem Mäuerchen im Central Park saß, wie er seine milchigweißen Arme im strahlenden Frühlingslicht betrachtete und auf einer Bank in den Strawberry Fields auf Suzanne wartete. Und er erinnert sich auch an das vor Kälte beschlagene Bierglas in Calabrava, an das Hemd mit den Blumen und die Sonnenbrille des Kommissars, an die Paella von Mercedes, sie alle drei zusammen am Tisch … Diese Lichtblicke aus der Vergangenheit sind wie ein Versprechen, er muss nur weitergehen bis auf die Spitze des Horlá, weiterwandern, egal wie langsam er auch vorankommt, wichtig ist nur, nicht stehen zu bleiben, sondern immer weiterzumachen.
    »Hör mal, Brüderchen«, sagt T in seinem Rücken, »wenn Du auf schnellstem Weg zurück in Deinen Garten Eden willst, dann musst Du Dich nur hinlegen und in aller Ruhe einschlafen … Das sage ich in Deinem eigenen Interesse. Zu erfrieren ist angeblich eine der süßesten Formen des Sterbens … «
    P bleibt kurz stehen, um zu antworten, obwohl es ihm ungeheuer schwerfällt, die Worte zu artikulieren:
    »Manche Dinge müssen von sehr weit oben geworfen werden.«
    »Ja, ja … Am Schluss hat Beethoven doch noch Recht: Der Suizid eines Bonvivant ist wahrscheinlich eine Art von performativem Selbstwiderspruch.«
    Als er an der Ermita de San Juan del Horlá vorbeikommt, die diesmal bis zur halben Höhe im Schnee begraben ist, nimmt P sich vor, seine Koordination zu disziplinieren, um das letzte Stück des
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