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Im Namen der Heiligen

Im Namen der Heiligen

Titel: Im Namen der Heiligen
Autoren: Ellis Peters
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Kapitelsaal schritt.
    Bruder Richard, der Unterprior, folgte ihm - das genaue Gegenteil des Priors, unscheinbar, freundlich und gütig, klug, aber denkfaul. Es war zu bezweifeln, ob er jemals Prior werden würde, wenn Robert einmal das Zeitliche segnete, da viele jüngere, ehrgeizige Brüder nach diesem Amt strebten und bereit waren, die größten Mühen auf sich zu nehmen, um ihr Ziel zu erreichen.
    Hinter Richard kamen die anderen Brüder herein, nach Hierarchien geordnet. Bruder Benedikt, der Sakristan, Bruder Anselm, der Präzentor, Bruder Matthew, der Kellermeister, Bruder Denis, der Hospitalleiter, Bruder Edmund, der Krankenpfleger, Bruder Oswald, der Almosenpfleger, Bruder Jerome, der Schreiber des Priors, und Bruder Paul, der Lehrer der Novizen. Danach folgten die gewöhnlichen Ordensmitglieder, eine imposante Schar. Mit den letzten dieser Brüder trat auch Cadfael ein und suchte seinen Platz auf, im Hintergrund des Saals, schlecht beleuchtet und halb verborgen hinter einer Säule. Da er nichts mit mühseligen Schreibarbeiten zu tun hatte, war es unwahrscheinlich, daß man ihn aufrufen und bitten würde, einen Vortrag über irgendwelche häuslichen Geschäfte zu halten, und wenn die besprochenen Themen allzu langweilig waren, konnte er sich die Zeit mit einem Nickerchen vertreiben. Aufgrund langjähriger Gewohnheit war er imstande, in seiner schattigen Ecke aufrecht sitzend und unbemerkt zu schlafen. Er besaß einen sechsten Sinn, der ihn notfalls sofort wecken würde. Angeblich hatte er sogar einmal eine Frage beantwortet, obwohl er überzeugt war, daß er zu jenem Zeitpunkt tief geschlafen hatte.
    An diesem Maimorgen blieb er lange genug wach, um Bruder Johns Vortrag über die unwahrscheinlichen, dramatischen letzten Jahre irgendeines obskuren Heiligen zu genießen, der gerade Namenstag hatte. Aber als der Kellermeister die komplizierten Einzelheiten eines Legats erläuterte, das teilweise für den Altar Unserer lieben Frau und teilweise für das Hospital bestimmt war, schloß er die Augen. Immerhin wußte er, daß nach der Aburteilung diverser geringfügiger Missetaten Prior Robert die restliche Zeit beanspruchen würde, um seinen Feldzug für die Sicherung der Reliquien und die Schirmherrschaft eines mächtigen Heiligen fortsetzen würde. In den letzten Monaten war nur selten über andere Dinge diskutiert worden. Der Prior hatte sich das alles in den Kopf gesetzt, seit im Kluniazenserkloster von Wenlock voller Stolz und Jubel das Grab der Gründerin, der heiligen Milburga, wiederentdeckt und der Rest ihrer Gebeine triumphierend auf dem Altar deponiert worden war. Eine ausländische Abtei, nur wenige Kilometer entfernt, verfügte über eine eigene wunderwirkende Heilige - und das große Benediktinerkloster von Shrewsbury entbehrte solcher Reliquien, wie eine geplünderte Opferbüchse. Das konnte Prior Robert nicht ertragen. Seit einem Jahr suchte er die Umgebung nach einem überzähligen Heiligen ab, spähte hoffnungsvoll nach Wales, wo es früher, wie man wohl wußte, so viele heilige Männer und Frauen gegeben hatte wie Pilze im Herbst und wo man sie, ebenso wie die letzteren, kaum beachtet hatte. Bruder Cadfael hatte keine Lust, sich die neuesten Klagen und Anfeuerungen Roberts anzuhören, und schlummerte ein.
    Weiße Felsen reflektierten die Sonnenhitze, versengten ihm das Gesicht, und der trockene Staub brannte in seiner Kehle. Von der Stelle aus, wo er mit seinen Gefährten in Deckung lag, konnte er die lange Mauer überblicken. Die Stahlhelme der Wächter auf den Türmen glitzerten im feurigen Licht. Ringsum erstreckte sich eine Landschaft, aus rötlichem Stein geschnitzt, mit tiefen Schluchten und steilen Klippen. Kein einziger grüner Grashalm milderte die rote Glut. Und vor ihm lag das Ziel seiner Reise, die heilige Stadt Jerusalem, gekrönt von Türmen und Kuppeln und von weißen Mauern umgeben. Der Staub der tobenden Schlacht hing in der Luft, umnebelte die Brustwehr und das Tor. Der Lärm heiserer Schreie und klirrender Rüstungen drang in sein Ohr. Er wartete auf die Trompetenfanfare, das Zeichen zum letzten Angriff. Er blieb in seiner Deckung, denn er hatte den kurzen Sarazenenpfeil respektieren gelernt. Die Banner flatterten im heißen Wind, er sah die erhobene Trompete funkeln und wappnete sich.
    Der Ton, der ihn aus seinem Traum riß, war laut und durchdringend - doch es war keine Trompete, die zum Angriff auf die Stadt Jerusalem blies. Er saß wieder in seiner dunklen Ecke im
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