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Im Namen der Heiligen

Im Namen der Heiligen

Titel: Im Namen der Heiligen
Autoren: Ellis Peters
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Kapitelsaal, und jetzt sprang er auf, ebenso konsterniert und erschrocken wie die anderen. Der schrille Schrei, der ihn geweckt hatte, ging in ein herzzerreißendes Stöhnen über, das immer wieder zu einem gellenden Kreischen anschwoll und sowohl von qualvollen Schmerzen als auch von wilder Ekstase künden konnte. In der Mitte des Saales lag Bruder Columbanus auf dem Bauch, schlug um sich wie ein gestrandeter Fisch, trat mit seinen langen weißen Beinen in die Luft und stieß dieses gräßliche Gebrüll aus, umringt von hilflosen Brüdern, während Prior Robert jammernd die Hände rang.
    Bruder Cadfael und Bruder Edmund, der Krankenpfleger, rannten zu dem Unglücklichen, knieten neben ihm nieder und suchten zu verhindern, daß er sich die Stirn am Steinboden blutig schlug oder sich alle Glieder brach. »Epilepsie«, sagte Bruder Edmund kurz und bündig und schob Bruder Columbanus das Ende der dicken Kordel, die ihm als Gürtel diente, zwischen die Zähne - zusammen mit einem Teil des Kuttensaums, damit sich der tobende junge Bruder nicht die Zunge abbiß.
    Cadfael war nicht überzeugt von dieser Diagnose, denn dies waren nicht die grunzenden, hilflosen Laute eines Epileptikers, sondern eher die wilden Schreie einer hysterischen Frau. Aber die Behandlung dämpfte zumindest den Lärm und schien sogar die krampfhaften Zuckungen zu verringern, wenn sie auch erneut an Heftigkeit zunahmen, als Cadfael und Edmund ihren Griff lockerten.
    »Der arme junge Mann!« murmelte Abt Heribert, der sich im Hintergrund hielt. »Was für ein plötzlicher, grausamer Anfall! Geht sanft mit ihm um! Bringt ihn ins Hospital! Wir müssen für seine Genesung beten.«
    Das Kapitel löste sich auf, nicht so wohlgeordnet wie sonst. Mit der Hilfe Bruder Johns und einiger anderer von eher praktischer Denkungsart trugen sie Columbanus in eine kleine Kammer im Hospital. Sie hatten ihn in ein Leintuch gewickelt, damit er nicht um sich schlagen und sich verletzen konnte, und statt der Kordel, an der er womöglich erstickt wäre, hatten sie ihm ein Stück Holz zwischen die Zähne gesteckt. Sie legten ihn auf ein Bett und fesselten ihn mit Bandagen, die sie um seine Brust und seine Schenkel wickelten. Er ächzte, gurgelte, bäumte sich auf, aber mit nachlassenden Kräften. Und als sie ihm Bruder Cadfaels Mohnsaft eingeflößt hatten, wurde das Stöhnen immer leiser, der Widerstand gegen die Bande erlahmte.
    »Paßt gut auf ihn auf!« befahl Prior Robert, der am Fußende des Bettes stand und besorgt die Stirn runzelte. »Ich denke, irgend jemand sollte stets bei ihm Wache halten, für den Fall, daß sich der Anfall wiederholt. Bruder Edmund, du mußt dich auch um deine anderen Kranken kümmern, also kannst du nicht Tag und Nacht an seinem Lager sitzen. Bruder Jerome, ich übergebe diesen armen Mann deiner Obhut und entbinde dich von allen deinen übrigen Pflichten, solange er dich braucht.«
    »Dazu bin ich gern bereit«, erwiderte Bruder Jerome. »Ich werde für ihn beten.«
    Er war der treueste Anhänger des Priors, und wann immer ein Fall eintrat, der bedingungslosen Gehorsam verlangte oder einen lückenlosen Bericht über gewisse Wahnsinnssymptome bei diesem oder jenem Bruder, wandte sich Prior Robert an Jerome.
    »Bleib nachts bei ihm, denn es geschieht vor allem in der Nacht, daß die Widerstandskräfte eines Mannes nachlassen und die bösen Mächte in seinem Körper die Oberhand gewinnen. Wenn er friedlich schläft, kannst du dich ausruhen - aber bleib in seiner Nähe, falls er deine Hilfe benötigt.«
    »In einer Stunde wird er tief und fest schlafen«, erklärte Cadfael zuversichtlich. »Und die Wirkung des Mohnsafts wird bald in einen natürlichen Schlaf übergehen. Wenn Gott es so will, ist er morgen wieder gesund.«
    Nach seiner Ansicht mangelte es Bruder Columbanus sowohl an körperlicher als auch an geistiger Arbeit, und dafür rächte er sich mit diesen halb willentlich herbeigeführten, halb unfreiwilligen Exzessen, um bemitleidet und gleichzeitig getadelt zu werden. Doch Cadfael war vorsichtig genug, um an seinen Mutmaßungen zu zweifeln. Er war sich nicht sicher, ob er seine Mitbrüder gut genug kannte, um sie richtig beurteilen zu können. Höchstens Bruder John... Aber innerhalb der Klostermauern und auch in der Außenwelt waren die fröhlichen, ungezwungenen, extrovertierten Brüder Johns dünn gesät.
    Am nächsten Morgen erschien Bruder Jerome aufgeregt im Kapitelsaal und konnte es kaum erwarten, seine ungeheuerlichen Neuigkeiten
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