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Im Leben gibt es keine Proben (German Edition)

Im Leben gibt es keine Proben (German Edition)

Titel: Im Leben gibt es keine Proben (German Edition)
Autoren: Brigitte Biermann
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den Hintern, behandelte mich wie das kleine Mädchen, das er einst verlassen hatte, und seine Frau mochte ich überhaupt nicht. Mit dieser Begegnung war meine Vatersehnsucht erloschen. Ich litt, weil ich fühlte, dass er mich nicht in den Arm nehmen wollte. Er tat es auch nicht, konnte es nicht. Er war offenbar enttäuscht von mir und meinem Wesen.
    Viel später, 1985, ich spielte am BE , erschien nach einer Vorstellung ein Mann in meiner Garderobe und fragte, ob ich verwandt sei mit Pedro Antoni. Der Mann, so stellte sich heraus, war einer meiner Cousins. Er überredete mich, mit meiner Schwester zum siebzigsten Geburtstag unseres Vaters zu kommen. Ich war Reisekader, wie das damals hieß, reiste mit dem Ensemble um die Welt. Für meine Schwester übernahm ich die Bürgschaft, denn für sie bedeutete es unglaublich viel, den Vater noch einmal zu sehen.
    Wir schrieben uns danach noch einige Briefe, besuchten uns einmal, und zehn Jahre später starb mein Vater.
    Er hinterließ zwei Frauen mit gleichem Vor- und Zunamen.
    Meine Mutter war achtzehn, als sie meinen Vater, der zehn Jahre älter war als sie, heiratete, mit fünfundzwanzig hatte sie zwei Kinder, ein Leben hinter sich und die Hoffnung auf ein neues. Es gab genug Männer, die sie begehrten, denn sie war schön: rabenschwarze Haare, wunderschöne dunkelgrüne Augen, ein Körper wie eine Gazelle und Beine wie die von Marlene Dietrich.
    Und sie war vielseitig begabt, eine Lebens- und Allroundkünstlerin. Eine Zeitlang arbeitete sie in Westberlin in einem Geschenkeladen als Verkäuferin. Später fand sie Arbeit als Moderatorin beim Radio in der Masurenallee. Um zusätzlich Geld zu verdienen, entwarf sie für andere Leute Kleider, Blusen und Hosen, zeichnete die Schnittmuster auf Zeitungspapier und schnitt sie aus. Ich sehe sie vor mir, wie sie mit dem Schnittmusterrädchen hantierte, einem gezackten Rad an einem Holzgriff. Sie war unglaublich erfinderisch, häkelte in feinster Gabelarbeit Schals. Sie bestrickte uns aus Wollresten, nähte aus abgelegten Sachen Kleider für uns, immer für jede das gleiche. Mein Einschulungskleid bestand aus einer gestreiften Gardine, rechts oben prangte ein gesticktes C. Weil auf einem Spann meiner Schuhe ein Loch war, montierte sie auf beide breite Lederlaschen.
    Meine Schwester sah toll aus in den Kleidern, ich hingegen, nun ja, vorsichtig ausgedrückt: nicht ganz so toll.
    Meine Mutter benähte unsere Puppen und schneiderte die Kleidchen, die wir beim Eiskunstlauf trugen, wo sie uns gleich nach der Einschulung angemeldet hatte. Sie spielte Tennis und lief hervorragend Rollschuh und Schlittschuh. In der warmen Jahreszeit trainierte sie mit uns auf der einzigen Asphaltstraße unserer Siedlung Rollschuhlaufen. Mir war es unglaublich peinlich, wenn die Nachbarn alle aus den Fenstern glotzten, meine Mutter als Trainerin sahen und ihre Ansagen hörten: »Bitte, jetzt möchte ich einen Dreisprung sehen ... und jetzt eine Pirouette!«
    Das Geld war immer knapp, aber Kultur durfte nicht zu kurz kommen. Auf Blockflöte und Mundharmonika spielte sie jede Melodie, die sie nur einmal gehört hatte. Wir durften nicht, wie andere Kinder in der Nachbarschaft, die Schlager im Soldatensender AFN hören, bei uns wurde sonntags die Melodie des Hörers eingeschaltet. Das erste Nachkriegsradio ging leider kaputt, weil ich unbedingt wissen wollte, wie der Mann aussieht, der darin spricht. Meine Mutter besorgte ein neues, und so kannte ich bald die Perlenfischer und Rusalkas Lied an den Mond und Wenn bei Capri die rote Sonne ..., Opernarien und viele, viele Lieder. Wo wir gingen und standen, sangen wir: Wanderlieder, Volkslieder, Abendlieder, alle Kanons, die es gibt. Zu jedem Lied fand meine Mutter die zweite Stimme.
    Was für die Musik galt, galt auch fürs Lesen – es war Pflicht in unserem Haus. Meine Mutter meldete uns in der Kinderbücherei an, die kurz nach dem Krieg geöffnet hatte. Ich las querbeet, was ich bekommen konnte: Arkadi Gaidars Timur und sein Trupp , Eva Bakos Die silberne Brücke , Erich Kästners Doppeltes Lottchen .
    Das erste eigene Buch bekam ich im ersten Schuljahr zu Weihnachten: Paul allein auf der Welt von Jens Sigsgaard. Die Geschichte eines kleinen Jungen, der davon träumt, viel Geld zu besitzen, um alles machen zu können, worauf er Lust hat. Schließlich sitzt er vor seinen Schätzen, die er mit niemandem teilen kann, und ist einsam. Das hat mich sehr beeindruckt.
    Gab es Erziehungsprobleme, die für meine Mutter
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