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Im Leben gibt es keine Proben (German Edition)

Im Leben gibt es keine Proben (German Edition)

Titel: Im Leben gibt es keine Proben (German Edition)
Autoren: Brigitte Biermann
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Bild meines Vaters hinge.
    Der Beruf des Kunstmalers war in damaliger Zeit genau so brotlos wie heute. So drehte sich jeder Streit im Haus ums Geld.
    Mein Vater hatte sich sein Atelier mit Staffelei auf dem Dachboden eingerichtet. Dort fand er Ruhe zum Malen und seine Form von Freiheit. Meine Mutter hingegen war temperamentvoll, ungestüm. Wie oft ignorierte er ihre minutenlang wiederholten Rufe nach ihm: »Pedro, komm essen! Pedro, Essen ist fertig ...!« Nicht nur einmal schmiss sie den Topf mit dem heißen Essen vor seine Ateliertür, weil Pedro sich nicht blicken ließ. Um Stunden später die Kartoffeln und das Gemüse zusammenzuklauben und die Treppe zu wischen. Da tat sie mir immer leid.
    Es gab Kräche oder Totenstille im Haus. Bei Krächen war mein Vater passiv, bei der Stille meine Mutter. Sie schrieb dann stundenlang auf ihrer Continental-Schreibmaschine kleine Geschichten oder beschäftigte sich mit Handarbeiten. Vor lauter Kinderstress und Geldsorgen vergaßen meine Eltern, miteinander zu sprechen. Sie waren einfach zu jung, um alle Probleme zwischen zwanzig Windeln pro Tag – wir Schwestern waren ja nur eineinhalb Jahre auseinander –, dem Haushalt und dem Geldverdienen lösen zu können. Sie trennten sich, aber geschieden wurden sie später aus der Ferne durch Professor Kaul, der auf derartige Problemfälle spezialisiert war. Da war mein Vater nämlich schon längst über alle Berge.
    Er zog aus, sein Atelier verlagerte er nach Köpenick. Nur selten klappten die Verabredungen mit ihm. Er teilte meiner Mutter wohl mit, dass er uns Kinder sehen wolle, aber dann sagte er plötzlich ab, oder er tauchte unangemeldet auf. Er brachte mir merkwürdige Dinge mit, ein kleines rotes Spielzeugauto zum Beispiel, mit dem ich nichts anfangen konnte. Mal eine Tüte getrockneter Apfelschnitze aus seinem Garten in Zeuthen, mal ein Taschentuch, bestickt mit einer Blume, mal drei Blümchen – für mich sinnlose Gegenstände. Nie schenkte er mir, was ich mir gewünscht hätte. Ihm fehlte jeglicher Sinn für das, was Kinder mögen.
    Für mich war es wunderschön, wenn ich ihn im Atelier besuchen durfte. Ich fuhr mit der Straßenbahn-Linie 84 vom S-Bahnhof Adlershof bis zum Rathaus Köpenick, wo ich an den Hauptmann denken musste, der alle so lustig betrogen hatte mit seiner Uniform.
    Die Goldrahmen für seine Bilder baute mein Vater selbst. Im Atelier roch es nach Knochenleim, der auf einem gusseisernen Ofen vor sich hin brodelte, in einem Wasserglas schwammen die Leimperlen, zwischen Blattgold, Zigaretten, einem Aschenbecher zum Zuklappen lag Brot auf einer Zeitung. Fragte ich nach Fett oder Butter, sagte er, Butter sei zum Kochen, nicht fürs Brot. Ich saß auf seinem Schoß und sah zu, wie er Ansichten von Sorrent und Genua malte, den Markt von Sizilien und Tiroler Berglandschaften. Er kopierte auch Bilder großer Meister. Wir redeten kaum miteinander, manchmal malte auch ich, und Stunden später brachte er mich zurück zur Straßenbahn.
    Nach meiner Einschulung trat Funkstille ein, dann hörten wir: Er war mit einer anderen Frau und unserem Setter Asta nach Westdeutschland abgehauen. Meine Mutter hatte keine Ahnung, wo er abgeblieben war.
    Da war ich acht, ein kleines Mädchen, das einen Vater gebraucht hätte, das so lange auf einen Vater hoffte, sich nach ihm sehnte, bis es die Vater-Arbeit im Haushalt selbst erledigte und schon mit zehn Jahren Geld verdiente.
    Er fehlte mir sehr, deshalb erfand ich viele Geschichten um meinen Vater, habe ihn in meinen Träumen idealisiert und mich nach diesem Ideal gesehnt.
    Ich glaube, in diesem Verlust, in dieser Sehnsucht lag die Ursache für die retardierenden Momente in meinem Frau-Werden.
    Später erfuhr ich, dass er Spezialist für italienische Farbmischungen war. Als unsere Klasse einen Ausflug in die Dresdener Gemäldegalerie machte, sah ich ihn auf einem Foto: In weißem Kittel mit schwarzer Baskenmütze stand er auf einer Leiter, aus der Bildunterschrift ging hervor, dass er mitgeholfen hatte, die Sixtinische Madonna zu restaurieren. Da war ich unglaublich stolz.
    Wiedergesehen habe ich ihn, als ich zwölf war. Meine Mutter hatte erfahren, dass er in Hessen lebte und dass seine Mutter ihren hundertsten Geburtstag feierte. Die Verwandten luden mich und meine Schwester ein. Als ich ihm gegenüberstand, bin ich fast umgefallen: Die gleiche Nase wie meine, ich bin ihm wie aus dem Gesicht geschnitten.
    Wir konnten nicht viel miteinander anfangen. Mein Vater klapste mir auf
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