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Im Leben gibt es keine Proben (German Edition)

Im Leben gibt es keine Proben (German Edition)

Titel: Im Leben gibt es keine Proben (German Edition)
Autoren: Brigitte Biermann
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erwischte grandiose Rollen, wahre Träume. Aber Theaterregisseure bevorzugen ebenfalls bestimmte Typen. Deshalb singe ich ein Loblied auf meine Zeit am Hans-Otto-Theater Potsdam. Dort durfte ich alles spielen, alles ausprobieren, es zählte das Experiment, nicht nur die Wirkung.
    Ich bekam etliche Hosenrollen, die eigentlich Männerrollen heißen müssten, denn die Hose ist ja kein Requisit: Don Gil, Gigolotti, Horatio, Herakles, Max Gericke, Arlecchino.
    Don Gil von den grünen Hosen bot meine erste Begegnung mit Einar Schleef. Sein Bühnenbild war so fantastisch, poetisch, vergleichbar nur mit dem der Doña Rosita von Horst Sagert am Deutschen Theater. Von Schleefs Ausstattung lebte die ganze Inszenierung. Wir trugen Papierkostüme, die ausgeschnitten, bemalt, gefaltet worden waren – jedes ein Unikat, ein Kunstwerk. Ursula Karusseit und Walfriede Schmitt sahen aus wie riesige, aufgetakelte Schiffe, ab der Taille ausfahrend, monumental.
    Don Gil, den die Frauen liebten, war meine weiblichste Rolle, dieser kleine, zarte Mann mit der feinen Lebensart, der unter diese Röcke passte und in Wirklichkeit Doña Elvira hieß.
    Den Arlecchino von Busoni spielte ich 1985 beim Hans-Werner-Henze-Festival in Montepulciano als kleinen Macho mit Lederjacke, Rockerhosen und Glatze. »Androgyn« nannte das Regisseur Peter Konwitschny. Er scheuchte die Sänger über die Bühne, versah sie mit modernen, ungewohnten Requisiten, ließ sie auf Leitern klettern und über Stühle springen. Einige vergaßen auf den Proben das Singen und moserten lauthals, weil sie sich so erschöpft fühlten. »Rigorose Qual«, schimpften sie. Für mich bedeutete, von der Musik diszipliniert und gejagt zu werden, große Aufregung und neue Erfahrung. Konwitschny beherrscht die Musik, somit hat er die Sänger verändert, denn sie übten Gehorsam gegenüber dem Fakt des Schauspiels.
    Ich legte Frauen flach, agierte wie ein Rüpel, sprang durch ein Fenster. Das Publikum tobte. Mitten in den Abschlussapplaus hinein zischte mir Peter Konwitschny zu: »Nimm die Glatze ab!«
    Das Publikum reagierte geschockt, der Beifall wurde dünner, ging über in Getuschel. Ich war sehr stolz, beim Spiel nicht als Frau erkannt worden zu sein. Die Machos im Publikum schienen irgendwie getroffen, die Frauen riefen »bravo!«. Und Konwitschny lachte sein triumphales Lachen. Der Saal brodelte. Und die zweite Vorstellung wurde der Brüller. Offenbar hatte sich herumgesprochen, dass Arlecchino von einer Frau gespielt wurde.
    Früher gab es an allen deutschen Bühnen das sogenannte Fach, das benannte eine Einstufung. Man begann zum Beispiel als muntere Naive, spielte dann Mütter und Charakterfach, später die Alte und kurz vor Schluss die komische Alte. Den Begriff Fach gibt es nicht mehr, er wurde durch das Wort Individualität ersetzt. Wie auch immer, da jede Rolle ein Traum für mich ist, wird es auch immer wieder Traumrollen geben.

Nachkriegs-Kindheit
    Ich war ein Nachkriegskind, ein Künstlerkind, ein Nachbarskind unter vielen. Und ich war immer zu klein. Vielleicht zeichnet das ein Kind aus oder zeichnet es. Meine Eltern heirateten 1942 schnell und katholisch unterm Tannenbaum. Hochzeit unterm Tannenbaum – kurzer Traum, wie der Volksmund sagt. 1944 erstes Kind, meine Schwester, 1945 zweites Kind, ich – das Nichtwunschkind, das nicht mehr gewollte in diesen Zeiten, und dann nicht mal ein Junge. Einmal hörte ich über mich sagen, »dass dieses Kind nicht nötig gewesen wäre«. Schon damals war der Traum meiner Eltern von der Liebe ausgeträumt, fünf Jahre später ihre Ehe zu Ende.
    Wir wohnten in einer Reihenhaus-Siedlung in Berlin-Adlershof, in der wegen der Nähe zum Fernsehfunk und der Akademie der Wissenschaften etliche Künstler, Schriftsteller und Wissenschaftler lebten. Klein-Worpswede nannte man die Siedlung. Die Häuschen sind winzig: oben zwei Zimmer und Bad, unten Wohnzimmer und Küche, davor ein Stück Garten.
    Mein Vater war Kunstmaler. An ihn habe ich wenige und sehr seltsame Erinnerungen, eigentlich erinnere ich mich nur an meine Sehnsucht nach ihm.
    Wie gesagt, ich war sehr klein, und wenn er mich mitnahm zu potenziellen Kunden, um seine Bilder zu verkaufen, lief er wahnsinnig schnell. Ich rannte an seiner Seite, war froh, wenn wir irgendwo angekommen waren und sitzen konnten. Er hatte seine Bilder fotografiert und zeigte den Leuten die Fotos. Als ich längst erwachsen war, traf ich gelegentlich Menschen, die mir erzählten, dass in ihrem Wohnzimmer ein
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