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Im Land der Mond-Orchidee

Im Land der Mond-Orchidee

Titel: Im Land der Mond-Orchidee
Autoren: Anne Witt de
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das Moor und seine Geheimnisse. Sie freute sich daran,
dort zu wohnen, wenn es draußen dunkel und gruselig war und drinnen warm und
behaglich, wenn draußen Nebelschwaden, düsteres Buschwerk, schwarze
Wasserlöcher, fliehende Wolken das Bild prägten und drinnen ein Feuer im Kamin
des Salons brannte und der Tee serviert wurde. Es hatte ihr immer gefallen,
zwischen Haufen bunt bestickter Kissen im bequemsten Winkel des Sofas zu sitzen
und zuzuhören, wie ihre Tante Klavier spielte oder ihre Onkel Claus und Merten
einander Jagdabenteuer zum Besten gaben … eine Freude, auf die sie in Zukunft
auch würde verzichten müssen. Aber noch lieber war es ihr gewesen, als Kind in
der Küche im Souterrain des Hauses zu sitzen und zu lauschen, wie die
Dienstboten einander Gespenstergeschichten erzählten, eine schauerlicher als
die andere.
    Gespenstergeschichten gab es in Java auch, das wusste sie aus einem
von Pastor Clemens’ Briefen, in dem er geschrieben hatte, die Einheimischen
seien sehr abergläubisch und fürchteten sich vor Blutsaugern und Totengeistern,
vor allem aber vor Werwölfen – die bei ihnen, wo es keine Wölfe gab, Werjaguare
und Wertiger waren. Und sie fürchteten sich, unter den grauen, zottigen
Banyanbäumen zu sitzen oder auch nur darunter entlangzugehen, weil sie
überzeugt waren, dass böse Geister darin hausten. Er hatte Bilder solcher Bäume
mitgeschickt, und Neele musste zugeben, dass sie ihr auch nicht ganz geheuer
waren. Sie sahen aus, als wollten sie einen mit langen kralligen Händen am Haar
fassen, wenn man ihnen zu nahe kam.
    Sie trat an den Spiegel, um ihre Frisur zu richten. Draußen
wetterleuchtete es jetzt, und eine Sekunde lang erhellte ein Flächenblitz den
Raum hinter ihr, als sie in den Spiegel blickte. Ihr Gesicht erschien
vollkommen weiß, umrahmt von dem aufgelösten, wie Werg verwirrten, fahlblonden
Haar, und ihre Augen funkelten geisterhaft. Sie erschrak vor dem eigenen, so
unheimlich fremden Anblick. In dieser einen Sekunde schien das Gesicht im
Spiegel ihr wie ein Zwilling, aufs Engste mit ihr verwandt und doch nicht sie
selbst. Dann erlosch der Blitz, und in scharfem Kontrast zu der blendenden Helligkeit
wurde es dunkel im Zimmer.
    Neele entfernte sich vom Spiegel. Als geschehe es ohne besondere
Absicht, nahm sie Kamm und Bürste an sich und setzte sich damit aufs Bett. Das
Gesicht im Spiegel sollte nicht merken, dass sie sich davor fürchtete. Es
sollte keine Gelegenheit haben, sie noch mehr zu erschrecken – vielleicht mit
dem unweigerlich kommenden nächsten Blitz noch einmal aufzutauchen. Sie fragte
sich, ob sie in diesem Augenblick das Zweite Gesicht gehabt hatte, das viele Leute
in ihrem Teil Norddeutschlands zu haben behaupteten. Menschen sahen in Visionen
Dinge voraus, die sich erst viel später ereignen würden. Würde eine Zeit
kommen, in der sie selbst sich fremd und unheimlich erschien?
    An einem Ort wie Norderbrake konnte man leicht abergläubisch werden,
wenn nachts die Lampen gelöscht wurden und eine endlose, nebelfeuchte
Dunkelheit sich über den Fenn breitete. Und das Unheimliche war nicht nur
draußen in den schwarzen Sumpflöchern und knorrigen Weiden, sondern auch inmitten
des Hauses, in dem stets verschlossenen Zimmer, in dem die Standuhr zu der
Stunde und der Minute stehen geblieben war, als die schöne Elsie Laudrun sich
an der Totenbahre ihres Mannes eine Kugel in den Kopf schoss.
    Neele spürte, wie ein kalter Schauder ihr über den Rücken lief, und
versuchte, das Gefühl der Bedrückung mit einer heftigen Bewegung abzuschütteln.
Energisch wandte sie ihre Gedanken dem jungen Arzt zu.
    Er war mitsamt seiner Schwester erst vor vier Jahren ins Dorf
gekommen, als der hochbetagte und bereits in greisenhafte Verwirrung versunkene
Dr. Steiner sich endlich aufs Altenteil zurückgezogen hatte, ehe er für seine
Patienten gefährlicher wurde als alle Krankheiten und Unfälle zusammen. Mit
fünfzehn hatte sie wenig Interesse an ihm gezeigt, da hatte sie, wie alle
anderen Mädchen auch, vom Theater geschwärmt. Im vergangenen Sommer jedoch
waren ihr ganz plötzlich die Augen aufgegangen, als sie bei ihrer Heimkehr aus
dem Internat am Hoftor dem schlaksigen jungen Mann mit der drahtgerahmten Brille
begegnet war. Als hätte sie ihn nie zuvor gesehen, war sie dagestanden und
hatte ihn angestarrt, während Käthe, verärgert über ihre
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