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Im Land der Mond-Orchidee

Im Land der Mond-Orchidee

Titel: Im Land der Mond-Orchidee
Autoren: Anne Witt de
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jetzt
miteinander verheiratet waren, hatte er ihr kaum mehr Zuwendung erwiesen als
einer Fremden. Niemand konnte behaupten, dass er sie misshandelte, aber wann
hätte er ihr je ein Lächeln geschenkt oder sie mit Wärme und Zärtlichkeit in
seine Arme gezogen? Paula Anderlies mit ihrer spitzen Zunge hatte einmal
gesagt, es sei, als sitze ein versteinerter Troll mit am Tisch.
    Er beteiligte sich nicht am Gespräch, obwohl jetzt, so kurz vor der
Abfahrt, die Diskussion lebhaft genug war.
    Tante Käthe, die von Anfang an gegen den Plan gewesen war,
postulierte, dass sie allesamt schon sehen würden, welche Schrecken sie in Java
erwarteten, worauf Paula zum wiederholten Mal zum Widerspruch ansetzte. »Pastor
Clemens schreibt …«
    Â»Ach was, der Pastor!«, rief Tante Käthe
respektlos. »Soll er sich lieber um die Heidenkinder kümmern, anstatt unser
junges Volk zu beschwatzen, dass sie in sein Teufelsland ziehen!«
    Die »Doktors« protestierten. Java sei kein Teufelsland, und sie
würden auch nirgends hinziehen, wo kochende Lava aus der Erde spritzt, sondern
nach Batavia, in die Hauptstadt, die hauptsächlich von Engländern, Holländern
und Deutschen bewohnt war. Dort ging es nicht weniger anständig zu als in
Bremen. Schließlich war die Stadt die Hauptstadt der gesamten niederländischen
Besitzungen in Ostindien, der Sitz des Generalgouverneurs und das Hauptemporium
des niederländisch-asiatischen Handels – da konnte es sich ja wohl kaum um ein
Kaff irgendwo in der Wildnis handeln. Hatte Pastor Clemens das nicht
geschrieben? Und hatten sie nicht in Meyers Konversations-Lexikon den ganzen Artikel über Java gelesen, in dem geschrieben stand, dass die
Menschen dort sanft und fügsam seien und das Land geradezu von Milch und Honig
überfloss – von dort kamen Kaffee, Tee, Gewürze, Kakao, Edelhölzer … Und die
Vulkane, die waren sicher weit entfernt von dem Ort, an dem sie leben würden.
    Â»Aber die Heiden!«, protestierte Tante Käthe angstvoll. »Was ist mit
denen?«
    Â»Ach was«, erklärte der Doktor, wobei er seiner Schwester und Neele
zuzwinkerte, »die leben weit weg im Landesinneren. In Pastor Clemens’ Internat
kommen nur solche, die schon getauft sind.«
    Â»Nun ja, dann ist es wohl nicht so schlimm.«
Tante Käthes Stimme klang erleichtert. Zweifellos dachte sie daran, was ein
durchreisender Professor ihnen über den Opferstein auf dem Hügel erzählt hatte:
dass man dort Menschen mit Bronzemessern das Herz aus dem Leibe geschnitten und
ihre Glieder in Stücke gerissen hatte. Aber das war sechstausend Jahre vor
Christus gewesen, nicht im Jahre des Heils 1880. Oder änderten Heiden sich nie?
    Für gewöhnlich blieben die Gäste bis spät in den Abend hinein, aber
diesmal kam keine Stimmung auf. Neele war bald zumute, als sitze sie bei einem
Leichenschmaus zwischen dem düster vor sich hinstarrenden Frieder und der
nervös schwatzenden Tante Käthe. Sie war froh, als der Pfarrer sie aufforderte,
mit ihm nach draußen zu kommen. Er wolle noch einige Worte mit ihr unter vier
Augen sprechen.
    Neele erwartete die üblichen Ermahnungen eines Geistlichen, aber
sein Gesicht war angespannt und seine Stimme heiser, als sei er mit sich selbst
nicht im Reinen hinsichtlich dessen, was er ihr sagen sollte. Schließlich rang
er sich zu den Worten durch: »Du kannst dich wohl kaum mehr an deine Eltern
erinnern, Neele, nicht wahr?«
    Sie schüttelte den Kopf. Sie war vier Jahre alt gewesen, als der
schreckliche Unfall ihres Vaters passierte und ihre Mutter sich das Leben nahm.
Ein Selbstmord galt als Sünde und Schande, deshalb war nach Elsie Laudruns Tod
nie wieder über sie gesprochen worden, und Tante Käthe hatte alle Fotos
weggeräumt. Nur das unheimliche grüne Zimmer hielt die Erinnerung an sie wach.
Unter den Dorfkindern ging das gleiche Spukgerede um wie unter den Erwachsenen,
aber Neele war bald vernünftig genug gewesen, nicht daran zu glauben. Ihre
Beziehung zu ihren Eltern verblasste; an deren Stelle traten Onkel Merten und
Tante Käthe. Sie war überrascht, dass der Pfarrer jetzt die Erinnerung an die
Verstorbenen in ihr aufweckte.
    Â»Nein«, antwortete sie. »Manchmal denke ich, ich könnte mich an
etwas erinnern, aber das bilde ich mir vielleicht nur ein, oder man hat es mir
später erzählt – dass meine Mutter sehr schön war,
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