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Im Land der Mond-Orchidee

Im Land der Mond-Orchidee

Titel: Im Land der Mond-Orchidee
Autoren: Anne Witt de
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Tölpelhaftigkeit, an
ihr zog und zupfte. Nachher hatte es ein Donnerwetter gegeben – so weit Tante
Käthes nervös tremolierende Stimme zu einem solchen fähig war: »Du hast dich
abscheulich benommen, Neele – stehst da, breitbeinig wie ein Bauerntrampel, und
gaffst ihm verzückt ins Gesicht! Was muss er jetzt von dir denken!«
    Was immer Lennert Anderlies gedacht hatte, er ließ sich nichts davon
anmerken. Sein Verhalten ihr gegenüber blieb dasselbe wie vor dem
Zusammentreffen am Hoftor. Eine Spur weniger burschikos vielleicht, aber das
mochte damit zu tun haben, dass sie jetzt, nach der Konfirmation, ganz
offiziell eine junge Dame war, der man nicht mehr so einfach einen frisch
gepflückten Apfel zuwerfen oder auf die Schulter klopfen durfte. Und ein Jahr
später hatte sie ja überhaupt geheiratet.
    Draußen wurden Schritte und Stimmen hörbar. Neele beugte sich weit
aus dem Fenster. Da – ein Stück unterhalb der Gartenpforte erschien eine
Tweedmütze, und einen Augenblick später der Kopf des Doktors. Er sah die junge
Frau am Fenster stehen und winkte ihr zu, und sie winkte fröhlich zurück, ehe
sie sich umdrehte und die Treppe hinablief.
    Â»Die Doktors sind schon da, Tante Käthe!«,
rief sie ins Esszimmer, wo ihre Tante den Tisch für das feierliche Abschiedsessen
deckte.
    Draußen in der Diele polterten Schritte. Dr. Anderlies erschien,
gefolgt von seiner Zwillingsschwester Paula. Ebenso groß und dünn wie er, trug
sie ihr Haar in einem Knoten und dieselbe Art drahtgerahmter Brille wie ihr
Bruder. Auch kleidete sie sich gleich ihm vorzugsweise in Tweed, nur dass sie
einen langen Rock anstelle von Hosen – die doch sehr unschicklich gewesen wären – trug.
    Sie eilte auf Neele zu und ergriff ihr
Hände. »Neeleken, meine Liebe! Ich habe dir etwas mitgebracht. Ein Stückchen
für deine Sammlung. Es kam in unserem Hintergarten nach oben, nachdem es letzte
Woche so stark geregnet hatte, du weißt ja, wie das ist, das Moor spuckt die
Dinger dann förmlich aus!«
    Sie reichte Neele einen Bronzestier, so klein, dass er in ihre
Handfläche passte. Die Figurine hatte etwas so Lebendiges an sich, dass Neele
fast meinte, sie atmen zu fühlen, wenn sie die Hand darum schloss. Oh, hätte
sie das Tante Käthe gesagt! Die wäre sofort überzeugt gewesen, dass in dem
Stier der Teufel selber steckte!
    Â»Paula, das ist wunderhübsch! Zu denken, dass du so kurz vor unserem
Abschied so etwas findest!« Sie öffnete die Hand und
betrachtete den winzigen Stier voll Bewunderung. »Was meinst du, was er ist –
ein Götze?« Käthe sah in jeder Figurine einen Götzen,
und Neele musste sie verstecken, sonst hätte die Tante sie fortgeworfen.
    Paula zwinkerte amüsiert. »Ein ganz, ganz kleines Goldenes Kalb?
Nein – ein Bronzenes Kalb? Ehrlich gesagt, ich weiß es nicht. Ich weiß nur,
dass er sehr hübsch ist und klein genug, um ihn einzustecken. Außerdem, was
soll’s? Selbst wenn er ein Götze ist, du betest ihn ja nicht an.«
    Sie plapperte eilig und eifrig weiter. Mittlerweile polterten auch
die beiden würdigen Herren, der Schulmeister und der Pfarrer, in die Diele und
wurden ins Esszimmer geleitet. Man setzte sich zu Tisch, Kerzen wurden angezündet
und unterstützten die beiden Stehlampen darin, dem Raum mehr Wärme zu geben.
Die Wirtschafterin – das letzte Überbleibsel eines einst großen Personalstabs –
stellte die gewaltige Suppenterrine auf den Tisch und füllte die Teller. Die
Gäste schwatzten mit dem Hausherrn, Merten Laudrun, bis Frieder erschien und
das Abendessen mit einem kurzen Gebet offiziell eröffnet wurde.
    Wie immer, wenn Neeles Mann den Raum betrat, stockten die Gespräche.
Man grüßte ihn höflich, aber ohne Herzlichkeit, und er erwiderte den Gruß
ebenso. Dr. Anderlies pflegte zu sagen, er habe nie einen so schwerblütigen
Menschen erlebt. Mittelgroß, aber stämmig, muskulös, mit einem wuchtigen Kopf
voll kurz geschnittener blonder Haare, verkörperte er den typischen Norddeutschen.
Er war kein bösartiger, nicht einmal ein unfreundlicher Mensch. Er tat niemand
etwas zuleide, und wenn man etwas von ihm brauchte, dann half er gerne. Aber er
war so wortkarg, so in sich verkrochen, dass Neele sich manchmal fragte, ob er
sie als seine Ehefrau wirklich wahrnahm. In dem halben Jahr, in dem sie
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