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Im Land der Mond-Orchidee

Im Land der Mond-Orchidee

Titel: Im Land der Mond-Orchidee
Autoren: Anne Witt de
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und Hagelwetter,
schließlich eine Invasion von Mäusen, die das letzte Körnchen vom Speicher
fraßen.
    Dass die Lebensmittelpreise immer weiter in die Höhe schnellten,
hatte der Doktor ihr nicht zu erzählen brauchen, das konnten Tante Käthe und
sie bei jedem Einkauf feststellen. Auf dem Land kam man mit dem Selbstangebauten
ja noch einigermaßen durch, aber in den Städten hungerten viele Menschen. Auch
wer arbeitete, hatte keine Hoffnung, menschenwürdig zu überleben. In Norderbrake
war es nicht der Hunger, sondern das allmähliche Versinken des Dorfes im Moor,
das die Bewohner in die Ferne trieb. Viele Männer waren nach Bremerhaven in die
Schiffswerften gegangen, aber Dr. Anderlies und seine Schwester hatten
abenteuerliche Pläne gehabt. Erst hatte er daran gedacht, als Schiffsarzt
anzuheuern, aber was sollte dann aus Paula werden? Und so hatten sie an Pastor
Ormus geschrieben, ob er noch weitere Mitarbeiter brauche, und eine
enthusiastische Antwort bekommen: Im Weinberg des Herrn würden immer Arbeiter gebraucht.
    Neele seufzte. Sie lenkte ihr Gespann entlang der schlängelnden
Straße, die erst durch den Fenn führte, dann weiter im Schatten eines dunklen
Hügels, auf dessen Kuppe die Reste eines prähistorischen Opferaltars standen.
Das Gewitter zog schnell auf, bedeckte jetzt schon ein Drittel des
Abendhimmels. Die alte Stute begann, nervös auf der Stelle zu treten, warf den
Kopf hin und her, dann legte sie unbekümmert um den straffen Zug des Geschirrs
ein hektisches Tempo vor. Sie hasste diesen Ort, genau wie alle anderen Pferde
der Umgebung. Dr. Anderlies sagte, das sei so, weil die Pferde dort zu oft
durch Blitz und Donner erschreckt worden seien. In die gewaltigen Steine des
heidnischen Altars war nämlich Eisen eingelassen, das den Blitz anzog, und wenn
es gewitterte, schlug der Blitz gut ein Dutzend Mal in die Hügelkuppe ein, oft
mit einer Wucht, dass einem noch im Dorf unten die Ohren zufielen. Aber die
Dorfbewohner hatten andere Erklärungen, und auch Neele hatte als Kind – wie
alle Kinder von Norderbrake mit ihr – schreckliche Angst vor diesem abweisenden
Ort gehabt. In Java lebten viele Heiden, das wusste sie aus Pastor Clemens’
Briefen. Ob sie auch solche unheimlichen Altäre bauten? Opferten sie darauf?
Menschen konnten sie ja heutzutage dank der christlichen Kolonialregierung
nicht mehr opfern. Hühner und Ziegen vielleicht, hatte Lennert gesagt. Lennert.
Dr. Lennert Anderlies. Sie musste sich straff am Zügel nehmen, ihn nicht
unversehens beim Vornamen zu nennen. Du liebe Güte, hätte Tante Käthe sich
aufgeregt, wenn sie als verheiratete Frau einen anderen Mann beim Vornamen
nannte, noch dazu einen Junggesellen!
    Ihre Gedanken kehrten zu Jürgen zurück. Der hatte als Junge immer
sein Schlimmstes getan, ihr Furcht vor dem Opferstein einzujagen, genau wie vor
der Gruft ihrer Eltern – was ihm recht gut gelungen war, da er Sohn des Küsters
und damit Herr über den Schlüsselbund zur Familiengruft der Laudruns gewesen
war. Neele war noch sehr lebhaft gegenwärtig, welche eindrucksvolle Tracht
Prügel Onkel Merten ihr verpasst hatte, als er von ihrem heimlichen Besuch dort
unten erfuhr. Dabei hatte es überhaupt nichts zu sehen gegeben als ein tiefes,
nasses Gewölbe, in dem wie Weinflaschen in Lochziegeln übereinander gestapelt
die Särge der verstorbenen Laudruns standen. Nun, sich in eine Gruft zu
schleichen war, auch ein dummer und geschmackloser Einfall gewesen, und im
Nachhinein hatte sie Onkel Merten gegenüber für die Tracht Prügel Verständnis
gezeigt.
    Es tat ihr weh, dass sie niemand von all denen, die sie in
Norderbrake kannte, jemals wiedersehen würde.
    Wenig später erreichte sie ihr Zuhause. Etwa zwei Kilometer von dem
Dorf entfernt lag auf einer Wurt inmitten eines verwilderten Parks ein
altertümliches Herrenhaus, das aus Steinquadern und vom Alter geschwärzten
Holzbalken erbaut war. Man sah deutlich, wo die Wurt eingesunken war und wie
schief die Mauern des Ostflügels sich an das übrige Haus lehnten. Ganz
Norderbrake stand auf unsicherem Grund. Es kam in der Umgebung nicht selten
vor, dass ein Haus buchstäblich in der Mitte zerriss, weil ein Teil davon immer
tiefer in den weichen Boden sank, während der andere stehen blieb. Überall im
Moor standen verlassene Torfstecherkaten, die langsam von dem saugenden, zähen
Morast
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