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Im Land der Mond-Orchidee

Im Land der Mond-Orchidee

Titel: Im Land der Mond-Orchidee
Autoren: Anne Witt de
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gewesen,
und nachdem er zurückgekommen war, hatte er sich nicht zu fassen gewusst vor
Zorn, dass Frieder ihm zuvorgekommen war. Nun, was sie selber anging, war es
vermutlich gleich. Sie wäre mit Jürgen auch nicht glücklicher geworden als mit
Frieder. Was er für Liebe hielt, war Leidenschaft und Verlangen. Er hätte sie
genauso wenig gefragt, ob sie ans andere Ende der Welt auswandern wollte, wie
ihr jetziger Gatte.
    Sie löste die Zügel, mit denen sie ihr Pferd am Pfosten vor dem
Gemischtwarenladen angebunden hatte, stieg auf das Fuhrwerk und fuhr los. An
diesem Tag schien sich alles gegen sie verschworen zu haben: Erst hatte es im
Laden an einem Teil der Dinge gefehlt, die sie kaufen wollte, dann war sie
Jürgen Simms begegnet, und jetzt zeigte sich das sonst so fügsame Pferd verdrossen,
schlug mit dem Schweif und schnaubte alle naslang. Es spürte das Unwetter, das
sich am Horizont sammelte und seine tintenblauen Wolken langsam gegen
Norderbrake vorschob. Wie würde in Zukunft ein schlechter Tag aussehen?
Moskitos in aller Morgenfrühe, angebrannter Reis und aufsässige Einheimische?
Mit dem Kaffee jedenfalls sollte es keine Probleme geben, hatte ihr Paula, die
Schwester des Doktors, versichert. Auf Java baute und braute man den
köstlichsten Kaffee der Welt.
    Vor Jahren hatte Pastor Clemens Ormus, der Geistliche des Dorfes,
einer Vision folgend den Entschluss gefasst, nach Holländisch-Ostindien
auszuwandern und in der Nähe von Batavia, der Hauptstadt der Insel Java, ein
evangelisches Internat einzurichten. Der Plan gedieh; von Zeit zu Zeit kamen
Briefe, die von Schulklassen getaufter Einheimischer berichteten, und
gelegentlich lagen Fotos und Zeichnungen dunkelhäutiger Kinder mit breiten,
flachen Gesichtern bei. Das Internat befand sich in einem schmucken kleinen
Herrenhaus inmitten eines parkähnlichen Gartens, dessen Bäume gespenstisch
aussahen – ihre Zweige oder Ranken hingen wie die langen Locken ungekämmter
alter Frauen herab. Als der Dorfarzt und seine Schwester, Lennert und Paula
Anderlies, den Gedanken fassten auszuwandern, lag es nahe, dass sie in ein Land
reisen würden, wo Menschen aus ihrer nächsten Umgebung bereits Fuß gefasst
hatten, und Frieder, der selten einen eigenständigen Entschluss fasste, hatte ihnen
zugestimmt. Neele war nicht gefragt worden. Es galt als selbstverständlich,
dass eine Ehefrau den Entscheidungen ihres Gatten gehorchte.
    Ãœbermorgen um diese Zeit würde sie schon an Bord des Ozeanliners Het Meisje Mariaan nach Holländisch-Ostindien unterwegs
sein. Sie konnte sich nicht vorstellen, wie es sein würde, in einem vollkommen
fremden Land unter fremdartigen Menschen ihr Leben zu verbringen, nachdem sie
bislang von der Welt nichts weiter als Norderbrake und ein paar Stippvisiten in
Bremerhaven gesehen hatte. Vor allem vor den Menschen hatte sie Angst. Neele
hatte ein einziges Mal – in Meyers Konversations-Lexikon – das Bild eines Wilden gesehen, eines schlanken, dunkelhäutigen Mannes, der
bunte Papageienfedern um Kopf und Hüften trug. Sie hatte sich gefragt, was er
wohl anzog, wenn es kühler wurde. Einen Mantel aus Vogelfedern vielleicht?
    Neele ließ dem Pferd seinen Willen, in Gedanken bei dem Land auf der
anderen Seite der Erde, in das sie schon in wenigen Tagen reisen sollte – für
eine lange Zeit, wahrscheinlich für immer. Sie hatte im Lexikon nachgelesen,
und dort stand auch eine ganze Menge darüber, aber das alles wollte sich in
ihrem Kopf zu nichts Richtigem fügen. Es war alles so fremd und absonderlich.
Clemens Ormus schrieb selten an die Leute des Dorfes, dessen Pastor er einst
gewesen war, und dann erzählte er nur von seiner evangelischen Schule. Das Land
rundum interessierte ihn wenig. Ihr einziger Trost war, dass es dort viele
Deutsche gab, sogar Menschen aus ihrer Gegend, denn seit rund hundert Jahren
trieben Hunger und Elend Auswanderer in Scharen aus dem norddeutschen Land, sei
es nach Amerika, Australien, Indochina oder eben auch Holländisch-Ostindien.
Ganze Landstriche waren verarmt, seit die Maschinen Einzug gehalten und das
Handwerk ruiniert hatten. In Thüringen und Sachsen, im Erzgebirge, im Vogtland,
im Harz und auch hier im Elbe-Weser-Dreieck hatten die Menschen ein kümmerliches
Leben geführt, oft von der Hand in den Mund. Und als sei das nicht genug Elend,
waren Plagen über das Land gekommen: Trockenheit, Überschwemmungen
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