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Im Land der letzten Dinge (German Edition)

Im Land der letzten Dinge (German Edition)

Titel: Im Land der letzten Dinge (German Edition)
Autoren: Paul Auster
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es in mein Zimmer zu Hause legen. Die Vorstellung, dass es dort gelandet wäre, könnte mir gefallen. Auf einem der Regale über meinem Bett zum Beispiel, neben meinen alten Puppen und dem Ballettkleidchen, das ich mit sieben getragen habe – ein letztes Andenken an mich.

Nach draußen gehe ich kaum noch. Nur wenn ich mit Einkaufen an der Reihe bin, aber auch dann meldet Sam sich meistens freiwillig, um es mir abzunehmen. Ich habe verlernt, mich auf der Straße zu bewegen, und diese Ausflüge sind sehr anstrengend für mich geworden. Es ist eine Frage des Gleichgewichts, nehme ich an. Meine Kopfschmerzen sind in diesem Winter wieder schlimmer geworden, und wenn ich mehr als fünfzig oder hundert Yards gehen muss, merke ich, wie ich ins Taumeln gerate. Ich glaube bei jedem Schritt hinzustürzen. Der Aufenthalt im Haus kommt mich nicht so hart an. Das Kochen erledige ich größtenteils weiter allein, aber nachdem man zwanzig bis dreißig Leute gleichzeitig mit Essen versorgt hat, sind vier nur eine Kleinigkeit. Wir essen ohnehin nicht viel. Genug, den nagenden Hunger zu dämpfen, aber mehr auch kaum. Wir versuchen, unser Geld für die Fahrt zu horten, und dürfen von dieser Lebensweise nicht abweichen. Der Winter war relativ kalt, fast so kalt wie der Schreckliche Winter, doch ohne die ewigen Schneefälle und Orkane. Warm haben wir uns gehalten, indem wir Teile des Hauses abrissen und die Stücke in den Heizkessel warfen. Victoria selbst hatte die Anregung dazu gegeben, aber ob dies nun bedeutet, dass sie in die Zukunft blickt oder ihr einfach alles egal geworden ist, kann ich nicht sagen. Wir haben die Treppengeländer auseinandergenommen, die Türrahmen, die Trennwände. Anfangs bereitete uns das ein gewisses anarchistisches Vergnügen – das Haus zum Heizen zu zerhacken –, aber inzwischen ist es nur noch grauenhaft. Die meisten Zimmer sind vollständig kahl, und wir haben das Gefühl, in einem verlassenen Bahnhof zu leben, in dem zum Abriss ausgeschlachteten Wrack eines Gebäudes.
    Sam ist in den letzten zwei Wochen fast täglich draußen gewesen, um die Randgebiete der Stadt durchzukämmen, die Lage an den Wällen auszukundschaften und genau herauszufinden, ob sich irgendwo Truppen massieren. Solche Erkenntnisse könnten, wenn die Zeit reif ist, von entscheidender Bedeutung sein. Gegenwärtig scheint der Fiddler-Wall das geeignete Ziel. Er bildet die äußerste Grenze im Westen und führt direkt zu der Straße, über die man ins freie Land gelangt. Das Millenial-Tor im Süden hat uns freilich auch gereizt. Jenseits davon ist stärkerer Verkehr, wurde uns erzählt, aber das Tor selbst ist nicht so scharf bewacht. Die einzige Möglichkeit, die wir bisher endgültig ausgeschlossen haben, ist der Norden. In diesem Teil des Landes herrschen offenbar große Gefahren und Chaos, und seit einiger Zeit schon munkelt man von einer Invasion, von ausländischen Truppen, die sich in den Wäldern sammeln, um nach der Schneeschmelze zum Schlag auf die Stadt auszuholen. Natürlich haben wir solche Gerüchte auch schon früher gehört, und man weiß kaum, was man glauben soll. Boris Stepanovich hat uns durch Bestechung eines Beamten zwar schon unsere Reisegenehmigungen besorgt, aber er schleicht noch immer täglich stundenlang um die Verwaltungsgebäude im Stadtzentrum herum, in der Hoffnung, irgendwelche Informationsfetzen aufzuschnappen, die uns weiterhelfen könnten. Dass wir im Besitz der Reisegenehmigungen sind, ist ein Glück, heißt aber noch lang nicht, dass sie uns nützen werden. Womöglich sind es Fälschungen, in welchem Fall wir Gefahr laufen, verhaftet zu werden, sobald wir sie dem Ausreiseinspektor vorzeigen. Er könnte sie aber auch ohne Angabe von Gründen konfiszieren und uns zurückschicken. So was soll vorgekommen sein, und wir müssen uns auf alles gefasst machen. Boris schnüffelt und horcht daher weiter herum, aber was ihm dabei zu Ohren kommt, ist zu verworren und widersprüchlich, um uns konkret zu helfen. Er hält dies für ein Indiz, dass die Regierung bald wieder stürzen wird. Sollte das eintreffen, könnten wir uns die vorübergehende Verwirrung womöglich zunutze machen, aber wirklich klar ist zur Zeit überhaupt nichts. Nichts ist klar, und so warten wir weiter. Einstweilen steht der Wagen, beladen mit unseren Koffern und neun Reservekanistern Treibstoff, in der Garage.
    Boris ist vor etwa einem Monat bei uns eingezogen. Er hat beträchtlich abgenommen, und mir fällt immer wieder ein verhärmter
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