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Im Land der letzten Dinge (German Edition)

Im Land der letzten Dinge (German Edition)

Titel: Im Land der letzten Dinge (German Edition)
Autoren: Paul Auster
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aber durch das Geld, das Boris dem Polizisten hingeblättert hatte, waren unsere Reserven ziemlich erschöpft. Innerhalb von drei Tagen nach Fricks Exhumierung wurden die letzten Stücke aus dem vierten Stock verkauft: ein vergoldeter Brieföffner, ein Beistelltisch aus Mahagoni und die blauen Samtvorhänge, die an den Fenstern gehangen hatten. Danach kratzten wir noch etwas zusätzliches Bargeld durch den Verkauf etlicher Bücher aus dem Lesezimmer unten zusammen – zwei Regale Dickens, fünf Shakespeare-Ausgaben (eine davon in achtunddreißig handflächengroßen Miniatur-Bänden), je einmal Jane Austen und Schopenhauer und einen illustrierten Don Quijote –, aber der Buchmarkt war inzwischen zusammengebrochen, und all das brachte kaum etwas ein. Von da an war es Boris, der uns über Wasser hielt. Freilich war sein Vorrat an Verkäuflichem alles andere als unerschöpflich, und wir machten uns gar nicht erst vor, dass es sehr weit reichen könnte. Wir gaben uns höchstens noch drei oder vier Monate. Eher weniger, wenn wir an den schon wieder bevorstehenden Winter dachten.
    Das Vernünftigste wäre gewesen, Woburn House gleich da zu schließen. Wir versuchten Victoria davon zu überzeugen, aber sie konnte sich nur schwer dazu durchringen, und es folgten mehrere Wochen der Ungewissheit. Und dann, gerade als Boris mit seinen Überredungskünsten kurz vor dem Erfolg zu stehen schien, wurde ihr, wurde uns allen die Entscheidung aus der Hand genommen. Ich spreche jetzt von Willie. Im Nachhinein betrachtet musste es ja einfach so kommen, aber ich belöge dich, wollte ich behaupten, irgendeiner von uns hätte es kommen sehen. Wir waren alle viel zu sehr mit den anstehenden Aufgaben beschäftigt, und als es dann schließlich geschah, kam es wie ein Blitz aus heiterem Himmel, wie eine Explosion aus den Tiefen der Erde.
    Nachdem Fricks Leiche abtransportiert worden war, veränderte Willie sich völlig. Zwar verrichtete er weiter seine Arbeit, aber nur schweigend, einsam, achselzuckend und mit leerem Blick. Sobald man in seine Nähe kam, flackerten seine Augen feindlich und vorwurfsvoll auf, und einmal stieß er sogar meine Hand von seiner Schulter; es wirkte wie eine Drohung mit Schlimmerem, falls ich es je noch einmal wagen sollte. Da ich täglich mit ihm in der Küche zusammenarbeitete, verbrachte ich vermutlich mehr Zeit mit ihm als alle anderen. Ich tat mein Bestes, ihm zu helfen, aber ich glaube nicht, dass irgendetwas von dem, was ich zu ihm sagte, je bei ihm ankam. Deinem Großvater geht es gut, Willie, sagte ich etwa. Er ist jetzt im Himmel, und was mit seinem Körper geschieht, das zählt nicht. Seine Seele lebt, und er würde bestimmt nicht wollen, dass du dir seinetwegen solche Sorgen machst. Nichts kann ihm weh tun. Er ist glücklich, wo er jetzt ist, und er möchte, dass auch du glücklich bist. Ich kam mir wie eine Mutter vor, die einem kleinen Kind den Tod zu erklären versucht, wobei ich denselben heuchlerischen Unsinn von mir gab, den ich von meinen Eltern gehört hatte. Was ich sagte, war jedoch unerheblich, da Willie mir kein Wort abnahm. Er war ein prähistorischer Mensch, und er vermochte auf den Tod nur auf eine Weise zu reagieren: indem er seinen verschiedenen Ahnen unter die Götter rechnete und ihn anbetete. Victoria hatte dies instinktiv erfasst. Fricks Grabstätte war für Willie heiliger Boden geworden, und er war nun entweiht. Die Ordnung der Dinge war zerstört, und nichts von all meinem Gerede würde sie jemals wiederherstellen.
    Er begann nach dem Abendessen auszugehen und kam selten vor zwei oder drei Uhr morgens zurück. Was er da draußen in den Straßen machte, war unmöglich herauszufinden, da er nie davon sprach, und es hatte keinen Sinn, ihn danach auszufragen. Eines Morgens tauchte er überhaupt nicht mehr auf. Ich glaubte schon, diesmal sei er für immer verschwunden, aber dann kam er, kurz nach dem Mittagessen, ohne ein Wort zu sagen, in die Küche und fing an Gemüse zu hacken, so dass ich fast in Versuchung geriet, seine Arroganz zu bewundern. Inzwischen hatten wir Ende November, und Willie war in seinen eigenen Orbit davongetrudelt, ein Wandelstern ohne definierbare Flugbahn. Ich gab es auf, mich darauf zu verlassen, dass er seinen Teil der Arbeit leistete. War er da, akzeptierte ich seine Hilfe; war er nicht da, machte ich die Arbeit allein. Einmal blieb er zwei Tage fort, ehe er zurückkam; ein andermal waren es drei Tage. Diese allmählich immer länger werdenden Abwesenheiten
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