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Im Land der letzten Dinge (German Edition)

Im Land der letzten Dinge (German Edition)

Titel: Im Land der letzten Dinge (German Edition)
Autoren: Paul Auster
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Dunkelheit, wenn ich, an seinen Arm geklammert, daran dachte, wie es am Anfang, in den Tagen des schrecklichen Winters, für uns gewesen war, als wir noch in der Bibliothek gewohnt und jede Nacht aus dem großen fächerförmigen Fenster nach draußen geblickt hatten. Jetzt redeten wir nicht mehr von der Zukunft. Wir machten keine Pläne, wir sprachen nicht davon, nach Hause zu gehen. Die Gegenwart nahm uns vollständig in Anspruch, und bei all der Arbeit, die täglich zu verrichten war, bei all der Erschöpfung, die sich daraus ergab, blieb auch gar keine Zeit, über irgendetwas anderes nachzudenken. Alles hing gespenstisch in der Schwebe, doch das machte es nicht unbedingt schlecht, und zuweilen erfüllte es mich fast schon mit Glück, dieses Leben zu führen und mich in die Gegebenheiten zu schicken.
    Dieser Zustand konnte natürlich nicht von Dauer sein. Er war eine Illusion, genau wie Boris Stepanovich gesagt hatte, und nichts vermochte den Umschwung aufzuhalten. Gegen Ende April begannen wir die Notlage zu spüren. Victoria ergab sich schließlich und setzte uns die Situation auseinander, und nun wurden nach und nach die notwendigen Sparmaßnahmen eingeleitet. Als erstes wurden die mittwochnachmittäglichen Rundfahrten gestrichen. Es sei überflüssig, Geld für den Wagen auszugeben, entschieden wir. Der Treibstoff war zu teuer, und außerdem warteten genug Leute gleich vor unserer Haustür. Nicht nötig, irgendwo außerhalb nach ihnen zu suchen, befand Victoria, und nicht einmal Frick erhob einen Einwand dagegen. Am selben Nachmittag noch machten wir unsere letzte Fahrt durch die Stadt – Frick am Steuer, Willie daneben, Sam und ich hinten. Wir tuckerten die Boulevards der Randbezirke entlang, warfen gelegentlich einen Blick in dieses oder jenes Viertel, spürten die Unebenheiten, wenn Frick den Wagen über Furchen und Schlaglöcher manövrierte. Keiner von uns war sehr gesprächig. Wir beobachteten nur, was an uns vorbeiglitt, wohl ein wenig ergriffen davon, dass dies nie wieder so sein sollte, dass dies das letzte Mal war, und bald schienen wir gar nicht einmal mehr hinzusehen, saßen nur noch in unseren Sitzen und hatten das merkwürdig-verzweifelte Gefühl, im Kreis herumzufahren. Danach stellte Frick den Wagen in die Garage und verschloss die Tür, und er hat sie, nehme ich an, seither nie wieder aufgemacht. Einmal, als wir zusammen draußen im Garten waren, zeigte er auf die Garage gegenüber und ließ ein breites, zahnloses Lächeln aufblitzen. «Sachen, die man sieht, wenn nicht mehr da», sagte er. «Nimm Abschied, und dann vergiss. Ein Blitz im Kopf. Husch ist es aus und vorbei. Erst ganz hell und dann vergessen.»
    Als nächstes wurden die Kleider gestrichen – all unsere Gratiszuwendungen an die Gäste, die Hemden und Schuhe, die Jacken und Pullover, die Hosen, die Hüte, die gebrauchten Handschuhe. Boris Stepanovich hatte diese Sachen immer en gros bei einem Lieferanten in der vierten Zensuszone gekauft, aber der Mann war jetzt nicht mehr im Geschäft, das heißt, er war von einem Konsortium aus Schlägern und Auferstehungsagenten daraus vertrieben worden, und wir besaßen nicht mehr die Mittel, diesen Zweig des Unternehmens aufrechtzuerhalten. Schon in guten Zeiten hatte der Erwerb von Kleidern etwa dreißig bis vierzig Prozent des Etats von Woburn House ausgemacht. Nun, da schwere Zeiten gekommen waren, blieb uns keine Wahl, als diese Ausgaben aus den Büchern herauszunehmen. Keine Kürzungen, keine schrittweisen Einsparungen – das Ganze wurde auf einen Schlag gestrichen. Victoria leitete unter dem Motto «gewissenhafte Ausbesserungen» eine Kampagne ein, wozu sie sich mit allerlei Nähmaterial eindeckte – Nadeln, Garnrollen, Flicken, Fingerhüten, Stopfeiern und so weiter –, und setzte dann die Kleider, in denen die Leute nach Woburn House kamen, so gut es ging instand. Dahinter steckte die Absicht, so viel Geld wie möglich für Lebensmittel einzusparen, und da dies ja auch wirklich das Wichtigste war, das, wovon die Gäste am meisten profitierten, waren wir uns alle über die Richtigkeit dieses Vorgehens einig. Trotzdem mussten, da die Räume im vierten Stock immer leerer wurden, auch bei den Lebensmitteln Einschnitte vorgenommen werden. Nach und nach wurden bestimmte Artikel gestrichen – Zucker, Salz, Butter, Obst, die kleinen Fleischrationen, die wir uns genehmigt hatten, das gelegentliche Glas Milch. Jedes Mal wenn Victoria eine neue Sparmaßnahme dieser Art verkündete, bekam
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