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Im Land der letzten Dinge (German Edition)

Im Land der letzten Dinge (German Edition)

Titel: Im Land der letzten Dinge (German Edition)
Autoren: Paul Auster
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mich entsetzt, mit was für erkünstelten Argumenten über Recht und Unrecht sie ihren Fanatismus rechtfertigte. Wie immer man es nennen wollte – eine Lüge, eine Maskerade, ein Mittel zum Zweck –, ich empfand diesen Plan als einen Verrat an den Prinzipien ihres Vaters. Ich hatte bereits genug Bedenken wegen Woburn House gehabt, und wenn überhaupt etwas mich veranlasst hatte, diese Institution zu akzeptieren, dann war es Victoria selbst. Ihre Offenheit, die Reinheit ihrer Beweggründe, die moralische Strenge, die ich bei ihr entdeckt hatte – all dies war mir ein Vorbild gewesen, hatte mir die Kraft zum Durchhalten gegeben. Und jetzt kam da plötzlich eine dunkle Stelle zum Vorschein, die ich zuvor nicht an ihr bemerkt hatte. Ich denke, es war eine Enttäuschung, und eine Zeitlang ärgerte ich mich richtig über sie, war entsetzt darüber, dass sie sich als Durchschnittsmensch entpuppte. Doch als ich die Lage allmählich zu durchschauen begann, verrauchte mein Zorn. Victoria war es nämlich gelungen, die Wahrheit vor mir verborgen zu halten, und die lautete, dass Woburn House am Rande des Zusammenbruchs stand. Das Theater mit Sam war nichts als ein Versuch, wenigstens etwas aus der Katastrophe zu retten, eine exzentrische kleine Coda, die einem Stück angeheftet wurde, das schon zu Ende gespielt war. Es war alles aus. Nur dass ich das da noch nicht wusste.

Ironischerweise war Sam in seiner Arztrolle ein Erfolg. Requisiten standen ihm reichlich zur Verfügung – weißer Kittel, schwarzes Köfferchen, Stethoskop, Thermometer –, und er wusste sie sehr effektvoll einzusetzen. Es war keine Frage, dass er wie ein Arzt aussah, aber nach einer Weile begann er sich auch wie einer zu benehmen. Das war das Unglaubliche daran. Anfangs konnte ich mich kaum mit dieser Verwandlung abfinden, wollte nicht zugeben, dass Victoria recht behalten hatte; aber letztlich musste ich die Tatsachen akzeptieren. Die Leute sprachen auf Sam an. Er hatte eine Art, ihnen zuzuhören, die sie gesprächig machte, und sobald er sich zu ihnen setzte, begannen ihre Herzen überzufließen. Zweifellos half ihm hierbei seine journalistische Schulung, doch jetzt war er zudem von einer gewissen Würde durchdrungen, gleichsam erfüllt von seiner Rolle als Wohltäter, und da die Leute dieser Rolle vertrauten, erzählten sie ihm Dinge, die er noch nie von irgendwem gehört hatte. Als ob man Beichtvater wäre, sagte er; und nach und nach erkannte er, wie sinnvoll es war, wenn Menschen sich etwas von der Seele reden durften – wie heilsam es wirkte, Worte auszusprechen, Worte hervorzulocken, die es ihnen ermöglichten, ihre Geschichte zu erzählen. Sam hätte in Versuchung geraten können, an seine Rolle zu glauben, stelle ich mir vor, doch gelang es ihm, sich davon fernzuhalten. Privat scherzte er darüber und legte sich im Laufe der Zeit einige Phantasienamen zu – Doktor Shamuel Farr, Doktor Quackingsham, Doktor Bunk. Ich spürte jedoch durch diese Späße hindurch, dass seine Arbeit ihm mehr bedeutete, als er zuzugeben bereit war. Seine Stellung als Arzt hatte ihm plötzlich den Zugang zu den geheimen Gedanken anderer Menschen eröffnet, und diese Gedanken wurden nun zu einem Teil seiner selbst. Seine innere Welt wurde größer, stabiler, fähiger, die Dinge aufzunehmen, die man in sie hineinlegte. «Es ist besser, nicht man selbst sein zu müssen», sagte er einmal zu mir. «Wenn ich mich nicht hinter diesem anderen Ich verstecken könnte – dem im weißen Kittel und mit der einfühlsamen Miene –, hielte ich das wohl kaum aus. Die Geschichten würden mich erdrücken. So aber ist es mir möglich, sie anzuhören, sie dort abzulegen, wo sie hingehören – gleich neben meine eigene Geschichte, neben die Geschichte desjenigen, der ich so lange nicht zu sein brauche, wie ich ihnen zuhöre.»
    Der Frühling kam früh in diesem Jahr; Mitte März blühte im Garten hinterm Haus der Krokus – gelbe und lila Stiele schossen aus den Grasborten, in deren sprießendem Grün noch Schlammlachen trockneten. Sogar die Nächte waren schon warm, und Sam und ich machten gelegentlich noch einen kurzen Rundgang durch die Einfriedung, bevor wir uns schlafen legten. Es war schön, für diese wenigen Augenblicke dort draußen zu sein, hinter uns dunkel die Fenster des Hauses, das schwache Leuchten der Sterne über uns. Bei jedem dieser kleinen Spaziergänge hatte ich das Gefühl, mich aufs Neue in ihn zu verlieben, jedes Mal war ich begeistert von ihm in dieser
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