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Im Land der letzten Dinge (German Edition)

Im Land der letzten Dinge (German Edition)

Titel: Im Land der letzten Dinge (German Edition)
Autoren: Paul Auster
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steht fest, dann sind wir geliefert. Wo nehmen wir dann unseren Brennstoff her, wie sollen wir uns dann am Leben erhalten? In dieser Zeit des nationalen Notstandes müssen wir alle wachsam sein. Wir können keine einzige Leiche entbehren, und wer da glaubt, dieses Gesetz untergraben zu müssen, darf einfach nicht damit durchkommen. Übeltäter der schlimmsten Sorte, perfide Rechtsbrecher, Verräterpack. Sie müssen aufgespürt und bestraft werden.»
    Inzwischen scharten wir alle uns draußen im Garten um das Grab, während dieser Idiot weiter seine boshaften hohlköpfigen Tiraden vom Stapel ließ. Victoria war bleich geworden, und hätte ich sie nicht gestützt, wäre sie wohl zusammengebrochen. Auf der anderen Seite des größer werdenden Lochs behielt Sam sorgfältig Willie im Auge. Der Junge war in Tränen aufgelöst, und während die Assistenten weiter die Erde hochschaufelten und sorglos in die Sträucher schleuderten, begann er plötzlich mit panischer Stimme zu schreien. «Das ist Opas Erde. Ihr dürft sie nicht wegwerfen. Die Erde gehört Opa.» Er wurde so laut, dass der Polizist seine Predigt unterbrechen musste. Er sah Willie verächtlich an, und als er seinen Arm in Richtung Maschinengewehr bewegte, legte Sam Willie die Hand über den Mund und zerrte ihn aufs Haus zu – der Junge zappelte und strampelte über den Rasen, und nur mit Mühe konnte Sam ihn bändigen. Unterdessen waren einige Gäste auf die Knie gefallen und beschworen den Polizisten, an ihre Unschuld zu glauben. Sie wüssten nichts von diesem abscheulichen Verbrechen; sie seien zur Tatzeit nicht dagewesen; hätten sie von solch verwerflichen Vorgängen hier erfahren, wären sie auf der Stelle ausgezogen; man halte sie alle gegen ihren Willen hier gefangen. Eine kriecherische Behauptung nach der anderen, ein Ausbruch von Massenfeigheit. Ich war so angeekelt, ich hätte kotzen können. Eine alte Frau – Beulah Stansky war ihr Name – griff doch tatsächlich nach dem Stiefel des Polizisten und begann ihn abzuküssen. Er versuchte sie abzuschütteln, doch als sie nicht loslassen wollte, rammte er ihr die Stiefelspitze in den Bauch, so dass sie stöhnend und winselnd wie ein geprügelter Hund der Länge nach hinschlug. Zu unser aller Glück erwählte Boris Stepanovich genau diesen Augenblick zu seinem Auftritt. Er öffnete die Verandatür an der Rückseite des Hauses, trat behutsam auf den Rasen und kam mit ruhiger, fast belustigter Miene in Richtung des Durcheinanders angeschlendert. Es war, als hätte er solche Szenen schon hundertfach miterlebt, als brächte nichts ihn aus der Ruhe – die Polizei nicht, die Gewehre nicht, rein gar nichts. Als er sich zu uns stellte, zogen sie gerade die Leiche aus dem Loch, und dann lag der arme Frick da im Gras, die Augen aus seinem Kopf verschwunden, das Gesicht ganz mit Erde verschmiert, in seinem Mund ein Gewimmel weißer Würmer. Boris sah gar nicht erst hin. Er ging direkt auf den rotberockten Polizisten zu, sprach ihn als General an und zog ihn dann beiseite. Ich hörte nicht, was sie redeten, aber ich konnte sehen, dass Boris die ganze Zeit grinste und mit den Augenbrauen zuckte. Schließlich tauchte ein Bündel Bargeld aus seiner Tasche auf, er blätterte einen Schein nach dem anderen von der Rolle und legte das Geld dem Polizisten auf die Hand. Ich weiß nicht, was das bedeutete – ob Boris die Strafe bezahlt hatte, oder ob sie sich auf irgendeine private Weise geeinigt hatten –, aber hinaus lief die Transaktion auf dies: eine kurze, rasche Übergabe von Bargeld, und damit war das Geschäft erledigt. Die Assistenten trugen Fricks Leichnam über den Rasen, durch das Haus und zur Vorderseite, wo sie ihn auf einen auf der Straße geparkten Lastwagen warfen. Auf der Treppe hielt uns der Polizist eine zweite Predigt – sehr streng, mit denselben Worten, die er schon im Garten benutzt hatte –, salutierte dann abschließend, knallte die Hacken zusammen, begab sich zu dem Lastwagen und verscheuchte mit knappen Handbewegungen die zerlumpten Gaffer. Sobald er mit seinen Männern abgefahren war, lief ich in den Garten zurück, um nach der Autohupe zu sehen. Ich hatte vor, sie wieder aufzupolieren und Willie zu schenken, konnte sie aber nicht finden. Ich kletterte sogar in das offene Grab, um sie dort zu suchen, aber sie war nicht da. Wie so viele andere Dinge zuvor war und blieb die Hupe spurlos verschwunden.

Fürs Erste hatten wir unseren Hals gerettet. Auf jeden Fall musste niemand ins Gefängnis,
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