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Im Land der letzten Dinge (German Edition)

Im Land der letzten Dinge (German Edition)

Titel: Im Land der letzten Dinge (German Edition)
Autoren: Paul Auster
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das ich für Isabel gekauft hatte. Die ersten Seiten waren mit ihren Mitteilungen bedeckt, den kurzen Botschaften, die sie mir in den letzten Tagen ihrer Krankheit geschrieben hatte. Das meiste davon war ganz einfach – etwa «Danke», oder «Wasser», oder «meine liebe Anna» –, doch beim Anblick dieser zittrigen, übergroßen Handschrift auf dem Papier musste ich wieder daran denken, wie sehr sie mit sich gekämpft hatte, um diese Worte deutlich hinzuschreiben, und da kamen mir diese einfachen Botschaften überhaupt nicht mehr ganz einfach vor. Tausend Dinge stürzten da plötzlich wieder auf mich ein. Ohne einen weiteren Gedanken daran zu wenden, riss ich die Seiten leise heraus, faltete sie ordentlich zu einem Rechteck zusammen und steckte sie in die Tasche zurück. Dann nahm ich einen der Bleistifte, die ich vor so langer Zeit bei Mr. Gambino gekauft hatte, stützte das Notizbuch auf meine Knie und fing an, diesen Brief zu schreiben.
    Seither habe ich täglich ein paar Seiten hinzugefügt, immer bemüht, möglichst alles für dich aufzuzeichnen. Manchmal frage ich mich, wie viel ich wohl ausgelassen habe, wie viel ich vergessen habe und niemals wiederfinden werde, aber es gibt auf diese Fragen keine Antwort. Die Zeit wird allmählich knapp, ich darf nicht mehr Worte vergeuden als unbedingt nötig. Anfangs glaubte ich, es würde nicht sehr lange dauern – ein paar Tage, um dir das Wesentliche mitzuteilen, und damit hätte es sich. Jetzt ist das Heft fast voll, und ich habe noch kaum die Oberfläche gestreift. Aus diesem Grund ist meine Schrift auch immer kleiner geworden. Ich habe versucht alles hineinzubringen, zum Schluss zu kommen, bevor es zu spät ist, aber jetzt erkenne ich, wie arg ich mich selbst getäuscht habe. Worte lassen so etwas nicht zu. Je näher man dem Ende kommt, desto mehr hat man zu sagen. Das Ende besteht nur in der Einbildung, es ist ein Ziel, das man erfindet, um durchzuhalten, doch irgendwann gelangt man zu der Erkenntnis, dass man nie dort ankommen wird. Vielleicht muss man aufhören, aber nur weil die Zeit abgelaufen ist. Man hört auf, aber das bedeutet nicht, dass man das Ziel erreicht hat.
    Die Worte werden immer kleiner, so klein, dass sie vielleicht gar nicht mehr lesbar sind. Das erinnert mich an Ferdinand und seine Schiffe, seine Liliputanerflotte von Segelbooten und Schonern. Weiß der Himmel, warum ich weiterschreibe. Ich halte es für ausgeschlossen, dass dieser Brief dich je erreicht. Es ist, als rufe man ins Leere, als schreie man in ein ungeheures und fürchterliches Nichts. Und wenn ich mir einmal einen optimistischen Augenblick gestatte, erschaudere ich bei der Vorstellung, was geschehen mag, wenn dieser Brief tatsächlich in deine Hände gelangen sollte. Was ich geschrieben habe, wird dir den Atem verschlagen, du wirst dich schrecklich ängstigen, und dann wirst du dieselbe Dummheit begehen wie ich. Bitte, tu es nicht, ich flehe dich an. Ich kenne dich gut genug, um zu wissen, dass du es tun würdest. Wenn du noch einen Funken Liebe für mich übrig hast, lass dich bitte nicht in diese Falle locken. Ich könnte den Gedanken nicht ertragen, mir Sorgen um dich machen zu müssen, mir vorstellen zu müssen, dass du durch diese Straßen irren könntest. Es reicht, dass eine von uns verschollen ist. Worauf es ankommt, ist, dass du bleibst, wo du bist, und in meinen Gedanken auch immer dort bleibst. Ich bin hier, und du bist dort. Das ist mein einziger Trost, und den darfst du mir auf keinen Fall nehmen.
    Andererseits, selbst wenn dieses Heft dich jemals erreichen sollte, zwingt nichts dich dazu, es auch zu lesen. Du bist mir zu nichts verpflichtet, und ich möchte nicht denken, ich hätte dich zu irgendetwas gegen deinen Willen gezwungen. Zuweilen ertappe ich mich sogar bei der Hoffnung, dass es so kommen möge – dass du einfach nicht den Mut aufbringst anzufangen. Der Widerspruch ist mir bewusst, aber so empfinde ich nun eben manchmal. Falls das eintrifft, sind die Worte, die ich dir jetzt schreibe, für dich bereits unsichtbar. Nie werden deine Augen sie sehen, nie wird der winzigste Bruchteil davon dein Gehirn belasten. Umso besser, mag sein. Und doch wäre es mir wohl nicht recht, wenn du diesen Brief vernichten oder wegwerfen würdest. Solltest du es vorziehen, ihn nicht zu lesen, könntest du ihn vielleicht an meine Eltern weitergeben. Sie würden das Heft bestimmt gerne haben, auch wenn sie es ebenfalls nicht über sich bringen sollten, es zu lesen. Sie könnten
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