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Im Land der Freien

Im Land der Freien

Titel: Im Land der Freien
Autoren: Andreas Altmann
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Love 1967 erinnern, zu fetten Preisen versteigert wurden. Heute erinnern wir uns an fröhlichen Sex und bezahlen sogar für diese Erinnerungen. Hirnsex scheint verführerischer als die tatsächliche nackte Menschenhaut. Immer mehr erregen sich, heißt es an anderer Stelle, am Cybersex im Internet. Unergründliches Männerherz: verruckelte Bilder von unverschämt falsch stöhnenden Damen als willkommene Alternative zu dem, was die Japaner » homban « – the real thing – nennen?
    Als ich die Park Avenue hinunterschlendere, höre ich über mein Walkman-Radio einen spanischsprachigen Sender. » ¿Como superar la masturbación? « heißt der Beitrag der Stunde: »Wie besiege ich die Selbstbefriedigung?« So weit sind wir schon, sogar das Onanieren wollen sie abschaffen. Trotzdem, so ein Titel wärmt den einsamen Reisenden. Er verführt zum Grinsen und gibt Einblicke, in welch dunkle Gassen sich die sexual correctness inzwischen schon verrannt hat.
    Dass sich nun auch die Mexikaner zu solch moralinsauren Ausritten hinreißen lassen, beweist das dringliche Bedürfnis Amerikas nach umgreifender Sauberkeit. Ich ertappe mich dabei, für Sekunden über eine Lösung – die Abschaffung des heiligen Onan – nachzudenken: Was könnte man mir und allen anderen Aufgewühlten mit auf den Weg geben, um uns die Versuchung auszureden? Um uns – » hacia las manos de Jesu Cristo « – zu den Händen von Christus hinzuführen. Das ist das Schönste an den moralisch so Erregten: ihre unfreiwillige Komik, der Wortwitz, den sie so begabt-naiv in ihren Entrüstungen unterbringen.
    Ich biege ab in die Fifth Avenue. Die Stadt, so zeigen die Zahlen, ist friedlicher geworden. Bürgermeister Rudolph Giuliani gilt als Aufräumer. Andere Bürgermeister reisen an, um bei ihm zu lernen. Auch sie wollen aufräumen wie er. Das heißt nie, das Problem zu lösen. Das heißt immer: mehr Polizei und mehr Macht für die Polizei.
    Ein paar warten immer noch darauf, weggeräumt zu werden. Ein sinnloses Unterfangen. New York wird sie behalten, auch auf der teuersten Straße der Welt: die Treppenhocker und lauthals Verzweifelten, die Abfallwühler und Mondsüchtigen, die Tagundnacht-Schlurfer und Zigarettenstummel-Endverbraucher, die Ganzkörperverschorften und auf alle Zukunft Abgemeldeten. Sie werden übrigbleiben bis zum Jüngsten Tag, werden die Schönen, die Effizienten, die vom Konsum Gezeichneten daran erinnern, dass sie, die anderen, noch immer da sind.
    Kein war on hunger , kein war on poverty – schon Nixon hat diese Kriege angezettelt und verloren – wird sie verschwinden lassen. Einer rennt mit nach oben gestrecktem Pappdeckel an mir vorbei, schreit, was er schon schriftlich niedergelegt hat: » The end is at hand .« Das passt, denn neben dem nagelneuen Armani Exchange liegt einer mit saftigen Karzinombeulen, bedeckt mit einem Stück Papier, auf dem es jeder lesen kann: » Homeless with Aids «. Was kommt danach? Was kann noch fürchterlicher klingen, als keine eigenen zehn trockenen Quadratmeter zu haben und von einer tödlichen Krankheit weggerafft zu werden?
    Ich flüchte in den nächsten Barnes&Noble-Buchladen. Will schauen, lesen und die Verlierer vergessen. Und habe kein Glück. Wie vom Teufel dirigiert, stoße ich auf eine deutsch-englische Ausgabe mit den Gedichten von Paul Celan. Der ist der letzte, der einen jetzt aufrichtet. Aber Celan meistert die Sprache mit so berührender Wucht, dass auch seine unseligsten Gedichte überwältigen mit erbarmungsloser Schönheit. Man weiß nie, was bei ihm tiefer geht: die Freude über seine Wörter oder der Schmerz über die grauenhaften Dinge, die er hinschreibt:
     
    Käme
    Käme ein Mensch
    Käme ein Mensch zur Welt, heute,
    mit
    dem Lichtbart der
    Patriarchen: er dürfte,
    spräche er von dieser
    Zeit, er
    dürfte
    nur lallen und lallen,
    immer-, immer-
    zuzu.
    (Pallaksch, Pallaksch)

ABSCHIED VON NEW YORK
    Am nächsten Morgen verlasse ich meine kleine Pension in der Nähe der Columbus University, Westside, ein paar Blocks von Harlem entfernt. Ich suche Zeitungen und ein Café. Als ich die Dicke vor einem Geldautomaten auf der Straße liegen sehe, weiß ich Bescheid. Eine solche Stellung in dieser Gegend ist eindeutig. Im selben Augenblick denke ich an den so rührigen Bürgermeister. Unübersehbar, ein paar Ganoven laufen noch frei herum in seiner Stadt.
    » He’s got the money «, schreit mir ein Passant zu. » He « ist nicht der Bürgermeister, sondern der Ganove, der die Dicke
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