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Im Land der Freien

Im Land der Freien

Titel: Im Land der Freien
Autoren: Andreas Altmann
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Denn hier gedeiht das so unbezahlbare Talent, mit dem zufrieden zu sein, was aus einem – irgendwann, irgendwann nach der letzten Diät – geworden ist.
    So begreife ich diese Reise durch die Staaten auch als Therapie. Empfehlenswert für alle wie mich, die für die immer vergebende Liebe dem eigenen Leib gegenüber nie begabt genug waren. Die Dicken machen Mut. Ich bin dünn. Als Zwölfjähriger war ich so abgezehrt, dass man mir riet, beim Baden nicht den Besen zu vergessen: als Paravent für mein besendünnes Knochengerüst. Einmal brachten Freunde einen Topf Leuchtfarbe mit. Sie wieherten vor Vergnügen. Ich solle mich damit anstreichen. So bestünde keine Gefahr, dass andere Badegäste versehentlich in mich hineinrennen. So unsichtbar spitz und mager kam ich daher. Sehnsüchtig fing ich an, auf Dicke zu blicken. Sie hatten alles, was mir fehlte: die Schwere und das Leichte.
    Ruhiger Anflug auf New York. Sarkastisch, wie so viele Abendländer, sehe ich zuallererst den Grünspan auf der Freiheitsstatue. Ajit sagt: »Wie schön.« Seit drei Jahren lebt er hier. Nicht mehr im Kugelhagel sein Brot verdienen zu müssen, das muss schön und gut sein. So hat er jetzt Zeit und träumt den amerikanischen Traum. Den Traum, es vom Tellerwäscher, der in einer von Kakerlaken und Ratten verseuchten Küche das grindige Geschirr spült, zum rasanten Leben eines millionenschweren Hotelbesitzers zu bringen.
    Habe ich Ajits rudimentäres Englisch richtig verstanden, so liegt in der Nähe seines zweirädrigen Gemüsekarrens eine Filiale der A&P-Lebensmittelkette. Ein Milliardenunternehmen, das von A wie Atlantik bis P wie Pazifik den nordamerikanischen Markt mit Supermärkten überzieht. Irgendwo in dieser Größenordnung scheint auch Ajits amerikanischer Traum angesiedelt. Er sagt den wunderbar blöden Satz, den er gleich bei seiner Ankunft auswendig gelernt hat: » Winning isn’t the most important thing, it’s the only .«
    Solide, geniale Hirnwäsche. Lustig, wohltuend und vielversprechend. Weil sie bravourös ablenkt und somit kaum einer auf die Idee kommt, von der amerikanischen Realität zu träumen. Sie ist weit weg vom Traum, so weit weg wie das Salär des A&P-Vorstandsvorsitzenden vom Dritte-Welt-Lohn der 30 Millionen, die mit McJobs ihr Dasein fristen. Das sind all diejenigen »Berufe«, die eine Lehrzeit von fünf Minuten verlangen und – wenn sich der Arbeitgeber an das Gesetz hält – mit knapp über fünf Dollar pro Stunde entlohnt werden. Die Tätigkeiten sind so grausam fad wie die Produkte der Firma McDonald’s, die als Namensgeber für die McJobs verantwortlich zeichnet.
    Amerikaner sind Träumer. Und jeder andere Neuankömmling, der dieses Land betritt, träumt mit. Und trotzig halten sie daran fest. Die Verbissenheit ist in der Verfassung verankert, jeder hat das Recht auf die Jagd nach Glück. So aberwitzig anders die Wirklichkeit auch sein mag, vom Zusammenspinnen riesiger Dollarhaufen wollen sie nicht lassen. Die Einbildung als Placebo. So unverwüstlich wie der liebe Gott und die Trompeten von Jericho.
    Siehe Jeremy. Irgendwann nach Grönland waren der Dicke und ich in der Warteschlange vor den Toiletten miteinander ins Gespräch gekommen. Jeremy zeigte sich als sensibler Mensch. Er erinnerte sich an meine im Weg stehende Nase und an die Tatsache, dass er sie mit seinem Hinterteil kurzerhand aus dem Weg geräumt hatte. Er fragte mich freundlich, warum ich nach Amerika käme. Und ich antwortete wahrheitsgemäß: Um durch sein Land zu reisen. Das gefiel ihm: » If you have a big dream, go for it .« Auch er sei augenblicklich hinter seinem großen Traum her. In einem Nest in Ohio baue er gerade eine eigene Fernsehstation auf. Hundertvierzehn Kanäle können die Einwohner bereits empfangen. Warum nicht hundertfünfzehn?
    Was lernen wir aus Jeremys großem, großem Traum? Dass alle träumen. Auch die nimmermüden Popcornfresser auf ihren Sofas, auch die Mutter, die heute in den USA Today steht, weil sie ihre cracksüchtige Tochter über den Haufen schoss. Als die Polizei eintraf, stammelte sie überwältigt: » We were winners. We had a house, we had a car, we had an American Express Card .«
    Dass in diesem Land ein paar Dutzend Millionen Träume pro Tag abstürzen und dass ein paar Millionen die Abstürze nicht mehr ertragen, da sie die Diskrepanz zwischen Kopfgeburt und tatsächlichem Leben schlichtweg überfordert, sie also nie winners werden, also immer losers bleiben. Und sich folglich zudröhnen
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