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Im Königreich der Frommen (German Edition)

Im Königreich der Frommen (German Edition)

Titel: Im Königreich der Frommen (German Edition)
Autoren: Peter Boehm
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sich
selbst zu erklären, so als ob Jack und ich gar nicht mehr da
waren.
    Totenstille.
    Paul machte oft
solche Witze. Erst behauptete er etwas. Dann wenn du ihm zu glauben
schienst, verzog er das Gesicht und stieß dir den Arm in die
Seite. Hah, hab ich dich wieder aufs Glatteis geführt. Das war
wieder einer von seinen Witzen.
    „ Aus
welchem Stock, Paul?“, fragte ich schließlich, sicher,
dass er gleich sagen würde: „Aus dem Erdgeschoss,
Dummerchen.“
    Mit ausdruckslosem
Gesicht sagte Paul: „Aus dem dritten.“
    Wieder Totenstille.
    Manche Geständnisse
dürfen nicht gemacht werden. Ich wusste nicht, was ich sagen
sollte. Jack sagte auch nichts. Als ich Jack später, ohne Paul
im Raum, darauf ansprach, sagte er, wahrscheinlich hat Paul einen
Witz gemacht.
    Wenn es ein Witz
war, dann ein sehr schlechter, sagte ich. Einer, der die Leute um
dich herum in eine äußerst unangenehme Situation brachte.
    Ich weiß
nicht, wie lang die Stille nach Pauls Geständnis drückte.
Nach so etwas können ein paar Sekunden wie eine halbe Ewigkeit
erscheinen. Macht jemand wirklich solche Witze?, sagte ich zu Jack.
    „ Ich
kannte schon vorher Kinderschänder“, sagte er und zuckte
mit den Achseln. Kinderschänder – sein Wort, mein
Gedanke.
    „ Sie
hat nur gelacht“, hatte Paul über das Mädchen
gesagt, als ob das alles erklärte, seine Erniedrigung, seine
Gewalttat und die Schuld und die Scham danach. Sie hat nur gelacht.
    Irgendwie kamen wir
danach wieder zurück zu angenehmeren Gesprächsthemen. Aber
danach war die Stimmung nicht mehr dieselbe. Es war etwas gesagt
worden, was nicht hätte gesagt werden dürfen. Ein
Nachmittag, der unschuldig begonnen hatte, hatte seine Unschuld
verloren.
    Bald ging Paul
völlig aus den Nähten. Er fing an, in Zungen zu sprechen.
Von seinem Sessel sprang er auf und hielt eine Rede, grinsend und
voller Schwung, die Arme zur Unterstützung in die Luft
geworfen. Ich lauschte gebannt. Aber wie genau ich auch hinhörte,
ich verstand nichts von dem, was er sagte. Kein Wort.
    Jack sagte später,
er dachte, Paul habe Deutsch gesprochen. Paul konnte überhaupt
kein Deutsch. Das war keine Sprache. Das war Paul, der sprach,
ungefiltert, aber ohne irgendwelche Worte.
    Jack verabschiedete
sich. Er musste etwas besorgen. Er wollte später wiederkommen.
Ich erinnerte Paul daran, dass er seine Frau anrufen wollte. Bevor
sie ihn wieder runtermachte, dachte ich, vielleicht ist es besser,
er vergisst es nicht. Hatte sie vielleicht etwas mit dem 8-jährigen
Mädchen zu tun?, dachte ich schon damals. Hatte sie Paul
deshalb in der Hand?
    Paul sagte, ja, ja,
jetzt werde er sie anrufen. Er sprang auf und schwankte in sein
Zimmer. Ich ging zur Toilette.
    Plötzlich
hörte ich einen dumpfen Aufprall, so als ob etwas großes
umgefallen wäre.
    Ich ging zu Pauls
Zimmer. Die Tür stand offen. Er saß auf seinem Bett. Blut
lief ihm über den nackten Oberkörper und Rücken. Er
war nicht ansprechbar. Saß nur da und wirkte so, als wisse er
weder, wo er sei noch was passiert war.
    Das Blut kam von
einer Wunde an seinem Hinterkopf. Wahrscheinlich ist er gestolpert
oder einfach umgefallen und hat sich den Kopf am Tisch
aufgeschlagen. Wahrscheinlich an dem, auf dem sein Laptop stand.
Allerdings war das egal. Er blutete und konnte sich kaum aufrecht
halten.
    Ich schaute mir die
Wunde an. Soweit ich das sehen konnte, war sie nicht besonders groß.
Mit Klopapier wischte ich ihm das Blut von Brust und Rücken und
tupfte vorsichtig die Wunde ab. So schlimm schien es nicht zu sein.
Aus der Wunde kam schon nicht mehr viel Blut.
    Außerdem:
Wenn wir ihn ins Krankenhaus bringen mussten, waren wir
möglicherweise in Schwierigkeiten. Auf der anderen Seite des
IPA, fünf Minuten zu Fuß, war eines. Das war nicht das
Problem. Aber dort würden sie vielleicht Fragen stellen. Warum
war er gefallen? Hatte er Alkohol getrunken? Roch er vielleicht
sogar danach?
    Zu dem Zeitpunkt
war ich fest entschlossen, ihn ins Krankenhaus zu bringen, wenn es
nötig wurde. Wir würden ihn nicht sterben lassen. Das war
klar. Die im Krankenhaus müssten helfen. Immerhin hatten sie
einen Berufseid abgelegt. Das war im Königreich nicht anders
als anderswo. Wahrscheinlich waren sie auch nicht so streng. Sie
wussten ja oder konnten sich zumindest vorstellen, dass westliche
Expatriates auch mal tranken. Wahrscheinlich hätten sie mit den
Augen gezwinkert und ihn dann zugenäht.
    So dachte ich
damals. Heute bin ich nicht mehr so sicher. Hätten wir
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