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Im Innern des Wals

Im Innern des Wals

Titel: Im Innern des Wals
Autoren: Orwell George
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hedonistischen Leuten wahrscheinlich genauso unannehmbar erscheinen würde. Was hat England im vergangenen Jahr denn auf den Beinen gehalten? Zum Teil, daran besteht kein Zweifel, eine unbestimmte Vorstellung einer besseren Zukunft, hauptsächlich aber die atavistische Regung des Patriotismus, das tief verwurzelte Gefühl aller englischsprachigen Menschen, daß sie Ausländern überlegen seien. Während der letzten zwanzig Jahre war es das Hauptziel der englischen Linksintellektuellen, dieses Gefühl zu brechen, und wenn sie Erfolg gehabt hätten, könnten wir vielleicht in diesem Augenblick patrouillierende SS-Männer in den Londoner Straßen sehen. Ähnlich verhält es sich mit den Russen, denn warum würden sie sonst wie die Tiger gegen die deutsche Invasion kämpfen? Zum Teil vielleicht auf Grund der schwachen Erinnerung an das Ideal eines utopischen Sozialismus, in der Hauptsache aber in der Verteidigung des Heiligen Rußland (der »geheiligten Erde des Vaterlandes« usw.), einem Idol, das Stalin in nur leicht abgeänderter Form wiederbelebt hat. Die Kraft, die in Wirklichkeit die Welt formt, entspringt Emotionen – Rassenstolz, Führerverehrung, religiösem Glauben, Kriegsliebe –, die liberale Intellektuelle mechanisch als Anachronismen abschreiben und gewöhnlich so total in sich selbst ausgerottet haben, daß sie überhaupt nicht mehr handlungsfähig sind.
    Diejenigen Leute, die Hitler als Antichrist oder andererseits als Heiligen Geist bezeichnen, sind der Wahrheit näher als jene Intellektuellen, die seit zehn schrecklichen Jahren daran festhalten, daß er lediglich eine Figur der Komischen Oper sei, die man nicht ernst zu nehmen brauche. Alles, was diese Vorstellung wirklich reflektiert, ist die Geborgenheit der englischen Lebensbedingungen. Der Left Book Club war im Grunde ein Produkt von Scotland Yard, so wie die Peace Pledge Union eine Schöpfung der britischen Kriegsmarine ist. Eine Entwicklung der letzten zehn Jahre war das Erscheinen des »politischen Buches«, einer Art erweiterten Pamphlets durch Kombination von Geschichte mit politischer Kritik, als einer bedeutenden Literaturgattung. Doch die besten Schriftsteller dieser Richtung – Trotzkij, Rauschning, Arthur Rosenberg, Silone, Borkenau, Koestler und andere – sind in keinem Falle Engländer, und fast alle sind Renegaten der einen oder anderen extremistischen Partei, die den Totalitarismus aus nächster Nähe gesehen und Exil und Verfolgung kennengelernt haben. Nur in den englischsprachigen Ländern galt es bis zum Kriegsausbruch als »modern« zu glauben, daß Hitler ein unbedeutender Wahnwitziger und die deutschen Panzer aus Pappe seien. Mr. Wells, wie man aus den eingangs wiedergegebenen Zitaten sieht, glaubt immer noch irgend etwas dieser Art. Ich nehme an, daß weder die Bombenangriffe noch der deutsche Feldzug in Griechenland seine Ansicht geändert haben. Eine lebenslange Denkgewohnheit steht zwischen ihm und einem Verständnis von Hitlers Macht.
    Mr. Wells gehört wie Dickens zu der unmilitärischen Mittelklasse. Geschützdonner und Sporenklirren lassen ihn kalt, das Stocken des Atems beim Vorbeimarsch der ehrwürdigen Flagge ist ihm völlig unbekannt. Er hegt einen unüberwindlichen Haß gegen die kämpfende, jagende, säbelrasselnde Seite des Lebens, symbolisiert in allen seinen frühen Büchern in einer leidenschaftlichen Propaganda gegen das Pferd. Der Hauptschurke in seinem Outline of History ist der militärische Abenteurer, Napoleon. Wenn man die Bücher, die er in den letzten vierzig Jahren geschrieben hat, durchsieht, findet man fast in jedem die gleiche, ständig wiederkehrende Vorstellung: die angenommene Antithese zwischen dem Wissenschafter, der auf einen geplanten Weltstaat hinarbeitet, und dem Reaktionär, der eine ungeordnete Vergangenheit wiederherzustellen versucht. In Romanen, utopischen Erzählungen, Essays, Filmen, Pamphleten – immer geht es um mehr oder weniger dasselbe. Auf der einen Seite stehen Wissenschaft, Ordnung, Fortschritt, Internationalismus, Flugzeuge, Stahl, Beton, Hygiene – auf der anderen Seite Krieg, Nationalismus, Religion, Monarchie, Bauern, Griechischprofessoren, Dichter und Pferde. Die Geschichte, wie er sie sieht, ist eine Serie von Siegen, die der wissenschaftliche über den romantischen Menschen erringt. Nun, wahrscheinlich hat er recht mit seiner Annahme, daß eine »vernünftige«, geplante Form der Gesellschaft, in der nicht so sehr Medizinmänner als vielmehr Wissenschaftler
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