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Im hohen Gras

Im hohen Gras

Titel: Im hohen Gras
Autoren: S King
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flüsterte sie.
    Cal grinste sie an – sein bestes, einfältigstes Grinsen. »Ist sie nicht großartig? Ich hab sie hier. Sie ist perfekt. Frisch aus dem Ofen und genau richtig gebacken.«
    Er griff neben sich und hielt etwas hoch, was in ein anderes T-Shirt gewickelt war. Becky sah eine kleine, bläuliche Stupsnase aus dem Totenhemd ragen. Nein, Totenhemd war falsch. Totenhemden waren für Leichen. Das waren Windeln. Sie hatte das Kind hier zur Welt gebracht, draußen im hohen Gras, und dazu nicht einmal des Schutzes einer Krippe bedurft.
    Cal redete wie immer so, als hätte er einen direkten Draht zu ihren Gedanken. »Was bist du doch für eine kleine Mutter Maria! Ich frage mich, wann die drei Weisen aufkreuzen! Und was für Geschenke sie uns wohl bringen.«
    Ein sommersprossiger Junge, dessen Augen weit auseinanderstanden, tauchte hinter Cal auf. Auch er hatte einen nackten Oberkörper. Wahrscheinlich war es sein T-Shirt, worin das Kind gewickelt war. Er beugte sich vor, stützte die Hände auf die Knie und betrachtete das Windelkind.
    »Ist sie nicht wundervoll?«, fragte Cal ihn.
    »Wirklich lecker«, sagte der Junge.
    Becky schloss die Augen.

    Sie fuhr bei offenem Fenster in die Abenddämmerung hinein, und der Fahrtwind zerzauste ihr das Haar. Auf beiden Seiten säumte hohes Gras die Straße und erstreckte sich vor ihr, so weit das Auge reichte. Sie würde ihr ganzes restliches Leben lang so weiterfahren.
    »Verborgen im hohen Gras«, sang sie vor sich hin. »Ein hübsches Mädchen einst saß …«
    Das Gras raschelte und kratzte am Himmel.

    Eine Weile später öffnete sie für ein paar Sekunden die Augen.
    Ihr Bruder hielt das schlammverkrustete Bein einer Puppe in der Hand. Während er darauf herumkaute, starrte er Becky mit heiterer, irgendwie dümmlicher Begeisterung an. Das Bein wirkte äußerst lebensecht, pummelig und drall, wenn auch etwas klein, und es hatte eine merkwürdig blassblaue Farbe, fast wie gefrorene Milch. Cal, du kannst doch kein Plastik essen, wollte sie sagen, aber das war zu anstrengend.
    Der kleine Junge saß hinter Cal und hatte ihr sein Profil zugewandt. Er leckte sich etwas von den Handflächen – Erdbeermarmelade, dem Aussehen nach.
    In der Luft hing ein scharfer Geruch. Es roch wie nach einer frisch geöffneten Dose Fisch. Ihr knurrte der Magen. Aber sie war zu schwach, sich aufzusetzen, zu schwach, auch nur irgendetwas zu sagen, und als sie den Kopf auf den Boden sinken ließ und die Augen schloss, schlief sie sofort wieder ein.

    Dieses Mal träumte sie nichts.

    Irgendwo bellte ein Hund: wuff, wuff. Ein Hammer schlug auf Holz, wieder und immer wieder, und rief Becky ins Bewusstsein zurück.
    Ihre Lippen waren trocken und rissig, und sie hatte immer noch furchtbaren Durst. Und Hunger. Sie hatte das Gefühl, als hätte ihr jemand ein Dutzend Mal in den Bauch getreten.
    »Cal«, flüsterte sie. »Cal.«
    »Du musst essen«, sagte er und steckte ihr etwas Kaltes und Salziges in den Mund. An seinen Fingern klebte Blut.
    Wenn sie auch nur einigermaßen bei Verstand gewesen wäre, wäre ihr wahrscheinlich auf der Stelle übel geworden. Aber es schmeckte gut, ein salzig-süßer Streifen mit der fettigen Konsistenz einer Sardine. Es roch sogar ein bisschen nach Sardine. Sie saugte daran, wie sie auch an Cals nassem T-Shirt gesaugt hatte.
    Cal hickste, als sie den sehnigen Streifen wie eine Spaghettinudel in den Mund saugte und runterschluckte. Das Ganze hatte einen komischen Nachgeschmack, irgendwie bitter und sauer, aber selbst das war nicht unangenehm. Als hätte sie eine Margarita getrunken und hinterher das Salz vom Rand des Glases geleckt. Cals Schluckauf klang fast wie ein belustigtes Schluchzen.
    »Geben Sie ihr noch ein Stück«, sagte der kleine Junge und beugte sich über Cals Schulter.
    Cal gab ihr noch ein Stück. »Köstlich! Die Kleine geht gut runter, was?«
    Sie schluckte und schloss wieder die Augen.

    Als sie das nächste Mal aufwachte, ruhte sie auf Cals Schulter und wurde getragen. Ihr Kopf hüpfte auf und ab, und bei jedem Schritt hatte sie das Gefühl, sich übergeben zu müssen.
    »Haben wir gegessen?«, flüsterte sie.
    »Ja.«
    » Was haben wir gegessen?«
    »Etwas Leckeres.«
    »Cal, was haben wir da gegessen?«
    Schweigend schob er das Gras beiseite, das mit weinroten Tröpfchen gesprenkelt war, und trat mit ihr auf die Lichtung. In der Mitte befand sich ein großer, schwarzer Fels. Der kleine Junge stand direkt daneben.
    Da bist du ja, dachte sie. Ich
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