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Im hohen Gras

Im hohen Gras

Titel: Im hohen Gras
Autoren: S King
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stand mitten auf der leeren Straße, hatte die Hände an den Mund gelegt und schrie: »He, Kleine, hallo!« Sie lief bis zur nächsten Kreuzung und weiter zu der Wiese hinüber und brachte eine halbe Ewigkeit damit zu, sich auf der Suche nach dem verlorenen Kind, ihrer verlorenen Verantwortung, durch das Gras zu kämpfen. Als sie wieder auf den Bürgersteig trat, wartete der Wagen bereits auf sie, und sie gab Gas. Und jetzt raste sie ziellos in der Gegend umher und spürte, wie panische Angst in ihr aufstieg. Sie hatte ihr Mädchen verloren. Ihr Mädchen war vor ihr weggelaufen – das verlorene Kind, ihre verlorene Verantwortung –, und nur der Himmel wusste, was der Kleinen passieren mochte, was ihr in ebendiesem Moment passierte. Von diesem Nichtwissen tat Becky der Magen weh. Und zwar ganz furchtbar!
    Ein Schwarm kleiner Vögel glitt über der Straße durch die Dunkelheit.
    Ihr Hals war wie ausgedörrt. Sie hatte einen so entsetzlichen Durst, dass sie es kaum noch aushielt.
    Die Schmerzen stießen in sie hinein, immer wieder, wie ein Liebhaber.
    Als sie zum zweiten Mal an dem Baseballfeld vorbeifuhr, waren die Spieler bereits alle nach Hause gegangen. Spielabbruch wegen Dunkelheit, dachte sie, eine Formulierung, bei der sie eine Gänsehaut bekam, und in dem Moment hörte sie ein Kind schreien.
    » BECKY! «, schrie das kleine Mädchen. » KOMM REIN! « Als wäre es Becky, die sich verirrt hatte. » DAS ABENDESSEN IST FERTIG! «
    » WAS MACHST DU DENN DA, KLEINE? «, schrie Becky und fuhr rechts ran. » KOMM HER! UND ZWAR AUF DER STELLE! «
    » ERST MUSST DU MICH FINDEN! «, schrie das Mädchen, und ihre Stimme überschlug sich dabei vor Begeisterung. » FOLG MEINER STIMME! «
    Die Rufe schienen von der anderen Seite des Spielfeldes zu kommen, wo das Gras hoch war. Hatte sie dort nicht schon gesucht? War sie nicht schon stundenlang durch das Gras getrampelt? Und hätte sich dabei nicht beinah selbst verirrt?
    » ES WAR MAL EIN FAULER BAUER! «, rief das Mädchen.
    Becky machte sich daran, das Spielfeld zu überqueren. Sie hatte keine zwei Schritte zurückgelegt, da spürte sie in ihrer Gebärmutter ein Reißen und stieß einen lauten Schrei aus.
    » DER WURDE GANZ SCHNELL IMMER SCHLAUER! «, trällerte das Mädchen. Ihrer Stimme war anzuhören, dass sie sich kaum noch beherrschen konnte und gleich losprusten würde.
    Becky blieb stehen und atmete den Schmerz aus. Als das Schlimmste vorbei war, ging sie vorsichtig weiter. Die Schmerzen kehrten sofort zurück, diesmal noch stärker als zuvor. Sie hatte das Gefühl, als würde etwas in ihr zerschnitten, als wären ihre Eingeweide ein Laken, das in der Mitte durchtrennt wurde.
    » ER RAUCHTE VIEL GRAS «, jodelte das Mädchen. » DENN DAS MACHTE IHM SPASS! «
    Becky schluchzte und machte einen weiteren unsicheren Schritt. Sie hatte schon fast die Second Base erreicht. Bis zum hohen Gras war es nicht mehr weit. Auf einmal hatte sie das Gefühl, jemand würde ihr ein Messer in die Magengrube rammen, und fiel auf die Knie.
    » DA WURDE SEIN WEIB MÄCHTIG SAUER! «, brüllte das Mädchen mit vor Lachen bebender Stimme.
    Becky umfasste ihren schlaffen, leeren Bauch, schloss die Augen und senkte den Kopf. Sie wartete darauf, dass der Schmerz nachließ, und als es ihr ein kleines bisschen besser ging, öffnete sie die Augen

    und Cal kniete im aschfarbenen Licht der Morgendämmerung neben ihr und blickte auf sie herab. Plötzlich sah sie ihre Umgebung wieder mit aller Deutlichkeit.
    »Nicht bewegen«, sagte er. »Ruh dich erst mal ein bisschen aus. Ich bin bei dir.«
    Er war von der Taille aufwärts nackt. Im taubengrauen Halbdunkel wirkte seine hagere Brust äußerst blass. Im Gesicht hatte er einen Sonnenbrand – und zwar einen heftigen, auf seiner Nasenspitze prangte eine riesige Blase –, aber sonst machte er einen ausgeruhten und gesunden Eindruck. Nein, mehr als das: Er wirkte frisch wie der junge Frühling!
    »Das Baby«, wollte sie sagen, brachte aber nichts heraus, nur ein heiseres Kratzen, als würde jemand mit rostigem Werkzeug ein eingerostetes Schloss knacken.
    »Hast du Durst? Bestimmt. Hier, nimm.« Er hatte sein zusammengerolltes T-Shirt mit Wasser getränkt und schob es ihr jetzt in den Mund.
    Sie saugte verzweifelt daran wie ein an der Brust nuckelnder Säugling.
    »Nein«, sagte er. »Nicht so viel. Sonst wird dir noch schlecht.« Er zog den nassen Baumwollschlauch zurück, worauf sie wie ein Fisch in einem Eimer nach Luft schnappte.
    »Baby«,
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