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Im eigenen Schatten

Im eigenen Schatten

Titel: Im eigenen Schatten
Autoren: Veit Heinichen
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ehemaligen Jugoslawien mitgemacht und wussten, wie man Befehle ohne Widerrede ausführte. Auch den beiden glatzköpfigen Südtiroler Brüdern war das klar; für Ordnung und Disziplin und gegen Schmarotzer, »undeutsches Benehmen« und Ausländer waren Ignaz und Johann Pixner, die Naz und Jo gerufen wurden, oft genug handgreiflich geworden. Auch die anderen, egal ob sie aus Rumänien stammten, aus dem Friaul, Slowenien, Apulien oder den Marken, waren Kämpfer.
    Jeder hatte seinen von Einstein und Direktor klar vorgegebenen Job. Jeder wusste, wie viel er dabei verdiente und dass er die anderen nach diesem lukrativen Coup nicht wiedersehen sollte.
    Im Sommer war Eraclea Mare vor den Türen Venedigs gleichermaßen ein Eldorado für heile Familien und alleinerziehende Mütter aus dem Norden, doch im Mai herrschte in dem gesichtslosen Strandbad – wenig mehr als ein Pinienwald mit Campingplätzen, Bungalowsiedlungen und einem langen Sandstrand – noch Flaute. Touristen waren nur vereinzelt zu sehen, die Lokale schwach besucht, und das Meer war den meisten zum Baden zu kalt. Doch niemand schenkte den Männern besondere Aufmerksamkeit, die zu einem Weiterbildungsseminar in zwei weißen Kleinbussen angefahren waren, deren Karosserie die Aufschrift einer Südtiroler Baufirma trugen: »Franz buggelt fescht – Der Ötzi am Bau«. Ein stilisierter Steinzeithammer diente als Logo. Den Schriftzug hatten sie bei einem Drucker in Bratislava übers Internet bestellt und an eine Hoteladresse liefern lassen. Die beiden Chefs, Direktor und Einstein, hatten sich vor Vergnügen auf die Schenkel geschlagen: Trotz aller Überwachungskameras und Abhörtechniken war es kaum schwieriger geworden, Spuren zu verwischen, sofern man gewieft genug die politischen Grenzen in Europa zu nutzen verstand – und natürlich die richtigen Kreditkarten zur Hand hatte.
    Kein Ortsbewohner wunderte sich darüber, die Männer nach Volleyballspielen am Strand zusammensitzen zu sehen, wo einer der Vorgesetzten Vorträge hielt und mit einem Stock Skizzen in den Sand zeichnete, die er später mit dem Fuß wieder verwischte. Und auch, dass sie gemeinsame Ausflüge machten, von denen sie erst abends wieder zurückkamen, war nichts Ungewöhnliches. Von den Deutschen in Südtirol war man ohnehin überzeugt, dass sie anders tickten als der Rest des Landes.
     
    Jahrzehntelang hatten die Behörden die Augen vor dem Wandel verschlafen und den Ausbau der A4 verschleppt. Halb Osteuropa drängte über diese Trasse von Triest nach Venedig und von dort weiter in Richtung Lombardei, Frankreich, der Schweiz oder nach Süden. Und in die Gegenrichtung steuerten die Lkw den Hafen von Triest an, um die Weiterfahrt auf einer der unzähligen Fähren in die Türkei fortzusetzen. Die europäische Industrie hatte ihre Lagerhaltung auf die Straße verlegt. Ware, die sich nicht bewegte, band Kapital und minderte die Renditen. Neunzehn Millionen Schwerlastwagen und über fünfzig Millionen Autos oder Lieferwagen mit Kennzeichen aus Ungarn, Rumänien, Bulgarien und der Ukraine, Moldawien, Slowenien und Kroatien zwängten sich jährlich durch das einhundertvierzig Kilometer lange Nadelöhr, zweihunderttausend am Tag. Die Regierung in Rom strafte den hochproduktiven Nordosten des Landes mit Ignoranz, und dessen Volksvertreter entwickelten besonderen Elan meist dann, wenn es darum ging, die brennenden Probleme nicht zu lösen. Viel zu spät hatte man sich schließlich zum Ausbau um eine weitere Fahrspur in beide Richtungen durchgerungen, ohne aber die Finanzierung zu sichern. Bis die Bauarbeiten in ein paar Jahren beendet wären, würde diese überlastete Ost-West-Achse noch weitere schwere Unfälle mit unzähligen Todesopfern zu verantworten haben, stundenlange Verspätungen und schwere wirtschaftliche Schäden verursachen. Erst kurz vor dem totalen Kollaps rückten die Baumaschinen an vereinzelten Streckenteilen an und trugen die Erde der enteigneten Flurstücke ab. Weitere Behinderungen, Teilsperrungen und Staus waren die Folge. Doch nicht immer wurde auf den Bauabschnitten gearbeitet. Wenn die öffentliche Hand mit den Zahlungen im Verzug war, standen die schweren Maschinen still – dafür florierten die Umsätze der Rechtsanwaltskanzleien.
     
    Am 27. Mai 2011 schlossen sich Punkt sieben Uhr dreißig hinter dem weißen gepanzerten Mercedes-Kleintransporter mit der Zwillingsbereifung an der Hinterachse die schweren Tore der Filiale der Banca d’Italia in Vicenza. Drei Männer saßen in
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