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Im eigenen Schatten

Im eigenen Schatten

Titel: Im eigenen Schatten
Autoren: Veit Heinichen
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dem Werttransporter, dessen Ziel die Aurum d.o.o. in einem Städtchen im kroatischen Teil der istrischen Halbinsel war. In Triest mussten die Sicherheitsleute vor der Grenze und hundert Kilometer, bevor sie den Goldschmiedebetrieb erreichten, ihre Waffen abliefern. Sie hatten keine Lizenz, sie auch im Ausland zu tragen. Einmal im Monat unternahmen sie die strengster Geheimhaltung unterliegende Fahrt auf der gleichen Strecke, aber an unterschiedlichen Wochentagen und zu den unterschiedlichsten Uhrzeiten mit unterschiedlichen Mengen des Edelmetalls, doch stets eskortiert von einer Limousine mit drei weiteren Wachleuten an Bord.
    Heute transportierten sie die bisher größte Menge an Goldbarren, und die Männer scherzten darüber, dass sich diesmal ein Überfall wirklich lohnen würde. Doch kurz darauf schimpften sie, weil die Fahrt auf einen Freitag gefallen war. Bereits bei Mestre, vor den Toren Venedigs, verdichtete sich der Verkehr derart, dass es immer wieder zum Stillstand kam, obgleich sich die Fernfahrer an das penibel überwachte Überholverbot für den Schwerlastverkehr auf der ganzen Strecke hielten. Der weiße Werttransporter, dessen einzige Kennung auf dem Dach angebracht war und der über GPS-Ortung und Sprechfunk in Verbindung mit der Zentrale stand, kam auf der linken Fahrspur kaum schneller voran. Heute war an frühen Feierabend nicht zu denken. In dieser monotonen Tiefebene, die manchmal von Flussläufen und Kanälen durchbrochen wurde, säumten Hunderte uniforme Industrieflachbauten die Autobahn. Dazwischen wechselten sich Pappelwälder, Getreidefelder, Obstplantagen, Weingärten mit brachliegendem Land und verlassenen Gehöften ab.
    Auch die Männer des Begleitfahrzeugs maulten: Zwei Familienlimousinen mit deutschen Kennzeichen hatten sich knapp vor ihnen auf die Überholspur gedrängt und gaben sie, trotz der wütend flackernden Lichthupe hinter sich, nicht mehr frei, solange sich am Horizont noch ein Fahrzeug abzeichnete. Für die siebzig Kilometer von Mestre bis Latisana hatten sie eineinhalb Stunden gebraucht, bis Triest dauerte der Transport unter diesen Bedingungen ewig, und an einem langen Wochenende war vor der kroatischen Grenze auch noch mit heftigen Wartezeiten zu rechnen.
    Bei der Fahrt über das Flussbett des Tagliamento zog ein Sattelschlepper direkt vor dem Begleitfahrzeug dreist auf die Überholspur. Nicht einmal mehr eine Notbremsung konnte verhindern, dass dieses vom Auflieger gegen die mittlere Leitplanke gedrückt wurde, sich um die eigene Achse drehte und im Sekundenbruchteil von zu dicht aufgefahrenen Fahrzeugen wie ein Tennisball auf die rechte Spur geschleudert wurde, wo es ein Schwerlaster aus der Türkei trotz Vollbremsung zermalmte. Die beiden deutschen Wagen schalteten die Warnblinkanlage ein und hielten mit ausreichendem Abstand auf dem Standstreifen. Der Sattelschlepper aber, der den Unfall verursacht hatte, entfernte sich mit Vollgas und verließ ungehindert die Autobahn bei der Abfahrt Latisana.
    Aus den Rückspiegeln hatten die beiden Sicherheitsleute im Führerhaus des Werttransporters mit ansehen müssen, wie ihre Kollegen in die Leitplanke krachten und über die Fahrspuren geschleudert wurden. Sie waren blass vor Entsetzen und fluchten, doch anhalten durften sie nicht. Der sichere Transport der Ladung hatte Vorrang, die strengen Vorschriften der Versicherung verboten jede Hilfeleistung. Geld verlangt Opfer. Leben zu retten, ist teuer. Der Funkspruch an die Kollegen blieb ohne Antwort. Rasch gab der Beifahrer die Meldung an die Zentrale durch, beschrieb in klaren Worten den Lkw und wo er die Autobahn verlassen hatte, damit die Polizei ihn stoppen konnte. Aus dem Lautsprecher vernahmen sie die lehrbuchmäßige Anweisung, die Fahrt auf keinen Fall zu unterbrechen. Ein neues Begleitfahrzeug würde aus Triest angefordert werden und das Geleit direkt an der Mautstelle übernehmen. Im Rückspiegel wurde die Unfallstelle auf der leeren Autobahn hinter ihnen immer kleiner.
    »Ich hoffe, es ist nicht so schlimm, wie es aussah. Sonst …« Mit fast tonlos hervorgestoßenen Worten unterrichtete der Mann auf dem Beifahrersitz den Kollegen im fensterlosen Laderaum.
    »Was sonst?«
    »Wenn du es gesehen hättest, würdest du nicht fragen.« Er biss sich auf die Unterlippe.
    Der Verkehr lockerte sich nun ein wenig, der Fahrer beschleunigte.
    »Das ist mir in zwanzig Jahren nicht passiert«, schimpfte er und hieb mit der Hand aufs Lenkrad. »Viele hunderttausend Kilometer bin ich
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