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Im Bann seiner Küsse

Im Bann seiner Küsse

Titel: Im Bann seiner Küsse
Autoren: Kristin Hannah
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sie behandelte. Sie hatte dieses abgespannte, hagere Aussehen schon gesehen - bei einem Arzt auf der chirurgischen Abteilung nach drei Tagen Dienst.
    »Amarylis?«
    »Nein, danke, ich trinke nicht.« Kaum waren ihr die Worte entschlüpft, als ihr klar wurde, dass mit ihrer Stimme etwas nicht in Ordnung war. Sie klang ... wie aus den Südstaaten. Gedehnt.
    »Was?«
    Kopfschmerz hämmerte. Sie drückte zwei Finger an die Schläfen. »Keinen Alkohol... was ich brauche, ist eine riesige Kopfschmerztablette und einen Blick auf mein Krankenblatt.«
    »Krankenblatt?«
    Es erforderte große Mühe, höflich zu bleiben. »Sagen Sie einfach dem Dienst habenden Arzt, dass ich bei Bewusstsein bin und ihn über meinen Zustand befragen möchte. Klar?«
    »Er ... ist nicht da.«
    Sie zog eine Braue hoch. »Spielt er Golf?«
    »Golf?«
    Tess presste die trockenen Lippen zusammen und sagte nichts. So war es am besten.
    Er schenkte ihr ein verkniffenes Lächeln. »Möchtest du das Baby sehen?«
    Tess runzelte die Stirn. Sie glaubte gehört zu haben, wie er >Baby< sagte.
    Sie wollte eben vorschlagen, er solle schlafen gehen, als eine
    Frage sich behutsam in ihr Bewusstsein einschlich. Was, wenn Carol kein Traum gewesen war? Was, wenn ...
    Sie kaute nervös an der Unterlippe und starrte ihn an. »Baby?«
    »Du ... kannst dich nicht erinnern?«
    Sie zuckte zusammen. Das letzte Mal, als ihr jemand diese Frage stellte, hatte Tess vergessen, dass ein Bus sie überfahren hatte. Diese Art Erinnerungslücken waren nicht dazu angetan, ihr Vertrauen zu wecken. Vorsichtig sagte sie: »Nein.«
    »Gestern hast du ein Baby bekommen. Unseren Sohn.«
    Sie fing an zu zittern, und plötzlich fiel ihr auch ein, wo sie diesen Mann gesehen hatte. Er war kein Arzt. Er war der Mann, den sie am Ort der zweiten Chancen gewählt hatte.
    »Oh mein Gott...« Sie presste die Hand auf den Mund.
    Es war wirklich gewesen. Wirklich.
    Der Bus hatte sie getötet. Sie war in Seattle ums Leben gekommen und im Körper einer bei der Entbindung gestorbenen Frau wieder geboren worden. Fragen, Sorgen, Hoffnungen und Ängste überstürzten sich in ihrem Kopf. Was machte man in einer Situation wie dieser? Lachen, schreien, weinen ... was nun?
    Eines nach dem anderen, Tess. Nur eines.
    Nach einem tiefen Atemzug sah sie ihn mit einem kleinen Lächeln an. »Ich ... ich brauche ein wenig Zeit. Um nachzudenken. Wie wär's, wenn du mir das Aspirin bringen würdest?« Auf seinen völlig verständnislosen Blick hin setzte sie hinzu: »Auch Acetaminophen wäre gut. Was du hast. Dies und ein Glas Eiswasser wären großartig.«
    »Aceta ... was?«
    »Tylenol.«
    Er schüttelte den Kopf. »Ich verstehe nicht, Amarylis. Was willst du haben?«
    Tess schob die Hand durch die zusammengeknüllten Decken auf der Suche nach dem Klingelknopf, der die Schwestern alarmierte. Nur gab es keinen Knopf. Keinen Knopf, kein Metallgeländer, keine praktische Abstellfläche fürs Essen. Nur ein splitteriges, altmodisches Holzbett.
    Die Frau hatte zu Hause entbunden?
    Tess schauderte. Kein Wunder, dass die Ärmste gestorben war.
    Sie sah sich im Raum nach einem Fläschchen um - nach irgendetwas, das ihre Migräne lindern würde. Sonnenschein drang durch ein kleines Fenster mit dicken Scheiben ein und fiel auf einen matten Dielenboden. Blaue Baumwollgardinen hingen schlaff zu beiden Seiten des Fensterchens. Die handgesäumten Kanten waren von zu viel Sonne ausgebleicht. Blumen gab es nirgends, weder vor den Fenstern noch auf dem Fensterbrett. An der Wand gegenüber stand allein und ohne den Schmuck von Fotos oder Krimskrams ein Waschtisch aus Eichenholz mit schrägem Spiegel. Krug und Waschschüssel aus weißem Steingut nahmen exakt die Mitte eines winzigen, verknitterten Spitzendeckchens ein.
    Ein prickelnd heißes Gefühl ergriff von Tess Besitz. Widerstrebend warf sie einen Blick zur Seite und zuckte sofort zusammen. Das Nachttischchen war eine umgedrehte Lattenkiste, die Lampe ein kleiner, rechteckiger Glastiegel, aus dessen enger Öffnung ein Docht ragte. Neben der Lattenkiste stand ein Nachtgeschirr aus rosa Porzellan.
    Erschrocken riss sie die Augen auf. Sie dachte an den Cowboy, an den Ritter in schimmernder Rüstung und schüttelte verneinend den Kopf.
    Nein, das würde Carol mir nicht antun ...
    »Was ist?«, fragte der Mann beklommen. »Soll ich Dr. Hayes rufen?«
    »Wo bin ich?«
    »Zu Hause ... auf San Juan Island.«
    Tess verspürte so etwas wie Erleichterung. Sie befand sich wenigstens noch immer
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