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Im Auge des Orkans

Im Auge des Orkans

Titel: Im Auge des Orkans
Autoren: Marcia Muller
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riesiger Ast — wohl von
der Ulme — hat das große Frontfenster eingeschlagen. Der Regen strömt herein,
und wir haben nicht genug Bretter und Nägel, um das Loch zuzunageln.« Er ließ
sich neben mir auf den Boden sinken.
    »Wer ist jetzt oben?«
    »Alle, glaube ich, außer Angela. Es ist
schwer zu beurteilen, weil die Leute ständig rauf und runter laufen, um irgend
etwas zu holen oder zu tragen oder zu schleppen.«
    »Würden Sie einen Augenblick bei den
Kindern bleiben?«
    Ich stand auf und reichte Sam das große
Fleischmesser, das mittelgroße, besser zu handhabende, behielt ich für mich.
    Ich ging in die Bibliothek, zur
Abteilung Seegeschichte. Einer der dort stehenden Bände würde mir erzählen, was
ich wissen wollte. Es dauerte etwa zehn Minuten, bis ich im Schein der
Taschenlampe die entsprechende Stelle fand. Sie bestätigte, was ich bereits
vermutet hatte.
    Als ich durch das Wohnzimmer ging,
waren Sam und Andrew in ein Gespräch vertieft. Auf meinen fragenden Blick hob
Sam die Faust mit abgestrecktem Daumen als Siegeszeichen, und ich eilte in die
Halle hinaus, gerade als dort eine Bewegung entstand und die Haustür ins Schloß
fiel.
    Jemand war in den Orkan hinausgelaufen.
Und ich ahnte auch, wer - und warum.
    Ich leuchtete mit der Taschenlampe in
die Dunkelheit hinaus und sah undeutlich eine Gestalt die Auffahrt entlangrennen.
Es bestätigte meinen Verdacht. Dies war kein Routinegang, um irgend etwas aus
einem der Autos zu holen. Das war Flucht.
     
     
     

26
     
    Ich rannte die Auffahrt entlang und
dachte dabei flüchtig, daß ich jemanden hätte holen sollen, der mich
begleitete. Aber Sam konnte die Kinder nicht allein lassen, und es war keine
Zeit gewesen, jemanden von oben zu rufen. Und jede Sekunde zählte. Die Gestalt
war inzwischen im dichten Regen nicht mehr zu erkennen, aber ich war ziemlich
sicher, daß sie zum Bootshaus wollte — wo das Boot und der neue Motor warteten.
    Der Regen floß mir über das Gesicht,
ich konnte nur schlecht sehen. Er durchweichte mir das Haar, das mir als nasse
Masse über den Rücken hing. Die Beine meiner Jeans sogen sich voll Wasser, und
bei jedem Schritt trat ich mit den Stiefeln in knöchelhohen Schlamm.
    Der Boden unter der großen Ulme war ein
Friedhof aus toten Zweigen. Der Baum selbst neigte sich unheimlich in meine
Richtung, Teile der Wurzeln lagen bloß. Er ächzte und zitterte im Wind. Ich
machte einen scharfen Bogen um ihn, weil ich Angst hatte, er könnte auf mich
stürzen. Das Licht meiner Taschenlampe hüpfte und zuckte über den Boden vor
mir, und dann konnte ich den Rücken des Deichs erkennen.
    Er schien zu schmelzen. Ein Strom aus
Lehm und Steinen floß an seiner Seite herab, darunter kam eine Schicht
Sandsäcke zum Vorschein, die ihn befestigten. Ich wollte hinauflaufen, glitt ab
und rutschte wieder zurück. Steine schnitten mir durch die Jeans in die Knie.
Ich krallte mich im Boden fest und kroch wieder hinauf, wobei ich die Stiefel
in die Sandsäcke stemmte. Schließlich war ich oben.
    Trotz der Dunkelheit konnte ich das
Wasser des toten Wasserarms erkennen, es war mit weißen Schaumkronen bedeckt,
die auch über den Bohlenweg an seinem Ufer rollten. Das schachtelförmige
Bootshaus lag tief im Schatten.
    Keuchend hockte ich auf dem Deich und
machte mich so klein wie möglich, um dem Wind wenig Angriffsfläche zu bieten.
Meine Taschenlampe zeichnete einen unregelmäßigen Lichtkreis in die Dunkelheit.
Hastig machte ich sie aus. Ich hatte das Messer in den Hosenbund gesteckt.
Jetzt zog ich es heraus und packte es fest mit meiner rechten Hand. Sein
Gewicht war ganz und gar kein tröstliches Gefühl — wenn man bedachte, daß die
Person, die ich verfolgte, meine Waffe haben mußte.
    Als ich wieder ruhiger atmete, schob
ich die Taschenlampe in die große Tasche meines durchweichten Pullovers und
glitt auf der anderen Seite den Deich hinab. Auf halbem Weg verlor ich das
Gleichgewicht und stürzte. Das Deichende stand unter Wasser, und ich fiel bis
zur Taille hinein. Es war ein eisiger Schock, ich schrie auf. Dann watete ich
zu den Stufen, die zum Holzsteg längs des Bootshauses führten.
    Das Geländer war auf die Stufen
gefallen, ich zog mich mühsam daran hinauf, weil meine Füße im Schlamm
steckenblieben. Eine Welle brach sich am Steg und verschluckte mich. Ich
kämpfte mit Armen und Beinen dagegen an und schluckte Wasser. Aber ich glitt
nur ein paar Schritte zurück.
    Ich hustete und spuckte und klammerte
mich an das kaputte Geländer.
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