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Im Auge des Orkans

Im Auge des Orkans

Titel: Im Auge des Orkans
Autoren: Marcia Muller
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in die Lunchdose packte, wußte ich,
daß ich sie abgelenkt hatte. Und dann begannen sie zu gähnen und noch mehr zu
gähnen, und es wurden keine Fragen mehr gestellt.
    Die ganze Zeit über ging der Lärm oben
weiter. Noch eine Scheibe zerbrach, und ein Chor frustrierter, empörter Stimmen
ertönte. Zu meiner Erleichterung waren auch Patsys und Evans’ Stimmen
herauszuhören. Was für Schaden ihre Freundschaft auch genommen hatte, zumindest
für die Dauer des Sturms würden sie am selben Strang ziehen.
    Als ich überzeugt war, daß die beiden
kleinen Mädchen schliefen, ließ ich meine Stimme leiser und leiser werden und
sah zu Neal hinüber. Sein Kopf war nach hinten gegen die Stuhllehne gesunken,
er schnarchte mit offenem Mund. Dann blickte ich zu Andrew und war entsetzt
über die Angst in seinen Augen.
    »Es ist alles okay«, flüsterte ich.
Erfolglos versuchte er, ein tapferes Gesicht zu machen.
    Ich nahm das kleine Schneidemesser
unter dem Kissen hervor, wo ich es zusammen mit den anderen versteckt hatte.
»Hier. Damit solltest du dich besser fühlen. Sei vorsichtig damit, aber benütz
es, wenn du dich oder deine Schwestern verteidigen mußt.« Er schluckte heftig,
nahm das Messer am Griff und fuhr vorsichtig mit dem Finger die Schneide
entlang. Dann stand er auf, blickte sich verstohlen um und ging zu der Wand, an
der seine Decke und seine Kissen lagen. Als er zurückkam, hielt er Zeichenblock
und Stifte in der Hand.
    »Ach ja«, flüsterte ich. »Die
Zeichnungen.«
    Wieder blickte er sich um, als hätte er
Angst, daß uns jemand beobachtete. Er legte den Finger an die Lippen, setzte sich
näher ans Feuer und winkte mir, sich neben ihn zu setzen. Ich gehorchte und
beobachtete ihn beim Zeichnen.
    Zuerst entstand eine große Gestalt in
weiten Kleidern. Ähnliche Figuren hatte er schon beim erstenmal gezeichnet, es
war nicht zu erkennen, wen sie darstellen sollten. Ich schüttelte den Kopf, und
Andrew riß das Blatt vom Block.
    Die Gestalt der nächsten Zeichnung
erschien mir irgendwie vertraut. Und der Hintergrund... »Was ist das?« Ich
deutete auf die unregelmäßigen Formen hinter der Gestalt.
    »Seht!« Wieder riß er das Blatt ab.
Dann zeichnete er nur den Hintergrund von der zweiten Zeichnung.
    »Feuer?« flüsterte ich.
    »Seht!«
    Er riß das Blatt wieder ab und
zeichnete ein neues, mit schnellen Strichen. Ich erkannte die Umrisse einer
Hand.
    »Hast du die gesehen?«
    »Leise, Sharon!«
    Ich senkte die Stimme. »Hinter dem
Fenster deines Schlafzimmers?«
    Er antwortete nicht, sein Körper
zitterte vor Aufregung, und er zeichnete schnell und sicher, von der Angst
beflügelt. Ich blickte mich um, doch über den unruhigen Lichtschein des Feuers
hinaus konnte ich nichts erkennen. Andrew hatte recht, wenn er sich fürchtete,
dachte ich. Jeder konnte hier irgendwo im Dunkeln stehen, an einer Tür oder
draußen im Sturm und zum Fenster hereinsehen.
    Ich versuchte, die verschiedenen
Stimmen, die von oben herabklangen, zu identifizieren. Das Hämmern übertönte
sie, es war nur ein lautes allgemeines Durcheinander.
    Andrew malte weiter an der Hand. Ich
beobachtete ihn und wartete. Und schließlich begriff ich. Er reichte mir den
Block und starrte mir bedeutungsvoll in die Augen. Ich nickte. Und dann dachte
ich an das »Warum« und weniger an den Täter selbst. Andrew erschauerte, und ich
legte ihm den Arm um die Schultern und zog seinen Kopf an meine Brust. »Du hast
deine Arbeit gut gemacht, mein Freund«, sagte ich.
    »Du weißt Bescheid, nicht wahr?«
    »Ja.«
    »Mir wurde es erst klar, als ich sah — «
    »Deshalb bist du auch so steif
dagestanden.«
    »Hm-hm.« Er drückte sich fester an
mich.
    Ich hielt ihn im Arm und starrte auf
die Zeichnung. Im Geist beschäftigte ich mich mit meiner Theorie, und die
Frustration, die ich vorhin empfunden hatte, war verflogen, ersetzt nicht so
sehr durch freudige Erregung, als durch Entschlossenheit. Ich fügte ein paar
Fakten hinzu, die ich jetzt wußte, ließ ein paar andere weg. Ließ diese
Überlegung fallen, nahm jene hinzu. Und spürte, wie in mir eine zornige
Gewißheit aufwuchs — die Art von Gewißheit, die einem verrät, daß man kurz vor
der Lösung eines Falles steht.
    Sam kam ins Zimmer, ging zu Neal und
sprach leise mit ihm. Neal schüttelte träge den Kopf, ließ sich dann aber doch
von seinem Bruder zu einem Sofa führen. Er legte sich darauf, und Sam deckte
ihn zu. Dann kam er zu uns: »Alles okay?«
    »Ja. Wie steht’s oben?«
    »Nicht gut. Ein
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