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Das fünfte Paar

Das fünfte Paar

Titel: Das fünfte Paar
Autoren: Patricia Cornwell
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    Am letzten Augusttag, einem Samstag, begann ich schon vor Morgengrauen zu arbeiten. Ich bekam nicht mit, wie die Sonne den Tau vom Gras leckte und der Himmel strahlend blau wurde. Den ganzen Vormittag kam Leiche nach Leiche auf die Stahltische, und der Raum besaß keine Fenster: Das Labour-Day Wochenende hatte in Richmond mit einer Anhäufung von Verkehrsunfällen und Schießereien begonnen.
    Es war zwei Uhr nachmittags, als ich endlich in mein Haus im West End zurückkam. Schon an der Tür hörte ich Bertha, die jeden Samstag bei mir saubermachte, in der Küche herumwirtschaften - und das Telefon begann zu klingeln. Bei ihrer Einstellung hatte ich sie angewiesen, Anrufe zu ignorieren.
    »Hallo«, begrüßte ich sie. »Ich bin nicht da.«
    Bertha hörte auf mit Bodenwischen. »Es hat vor 'ner Minute schon mal geklingelt«, berichtete sie. »Und ein paar Minuten davor auch schon. Jedesmal derselbe Mann.«
    »Ich bin nicht zu Hause«, wiederholte ich.
    »Wie Sie meinen, Dr. Kay.« Der Schrubber kam wieder in Bewegung.
    Ich öffnete die Kühlschranktür und versuchte die körperlose Nachricht des Anrufbeantworters, die in die sonnendurchflutete Küche drang, zu überhören. Wo war der Geflügelsalat? Auf den Signalton folgte eine vertraute männliche Stimme: »Doc? Hier spricht Marino...«
    Hilf, Himmel! dachte ich, griff mir den Geflügelsalat und schloß die Kühlschranktür mit einem Hüftschwung. Detective Pete Marino vom Morddezernat Richmond war seit Mitternacht im Dienst gewesen, und ich hatte ihn vorhin kurz gesehen, als er bei mir im Obduktionsraum vorbeischaute, wo ich gerade die Kugeln aus einem seiner Fälle entfernte. Eigentlich hatte er den verbleibenden Rest des Wochenendes mit Angeln am Lake Gaston verbringen wollen - und ich freute mich auf anderthalb faule Tage.
    »Ich habe schon mehrfach versucht, Sie zu erreichen. Konnte nicht länger warten. Jetzt bin ich schon unterwegs. Benton hat mich grade noch erwischt...«
    Das klang dringend. Ich nahm den Hörer ab. »Was gibt es?«
    »Gott sei Dank! Mann, wie ich diese Anrufbeantworter hasse! Ich habe schlechte Neuigkeiten: Man hat wieder mal ein verlassenes Auto gefunden. In New Kent County - auf einem Rastplatz an der Sixty-Four. In westlicher Fahrtrichtung.«
    »Heißt das, daß wieder ein Pärchen verschwunden ist?« Ade, Faulheit.
    »Fred Cheney, weiß, neunzehn. Deborah Harvey, weiß, neunzehn. Zum letztenmal gesehen gestern abend gegen acht, als sie vom Haus der Harveys in Richmond nach Spindrift aufbrachen.«
    »Und der Wagen steht auf dem Rastplatz Richtung Westen?« fragte ich verdutzt: Spindrift, North Carolina, liegt etwa dreieinhalb Stunden östlich von Richmond.
    »Richtig. Sieht so aus, als hätten sie in die Stadt zurückgewollt. Ein Trooper hat den Jeep Cherokee ungefähr vor einer Stunde entdeckt. Keine Spur von den beiden.«
    »Ich fahre sofort los«, erklärte ich.
    Bertha hatte zwar weitergeputzt, aber ich wußte, daß ihr kein Wort entgangen war. »Ich schalte die Alarmanlage ein, wenn ich gehe«, versprach sie.
    »Okay. Vielen Dank.«
    Furcht kroch in mir hoch, als ich mir meine Handtasche schnappte und aus dem Haus hastete. Bis jetzt waren es vier Paare - alle vermißt gemeldet und schließlich tot aufgefunden. In einem achtzig Kilometerumkreis von Williamsburg.
    Die Fälle, die in der Presse unter der Bezeichnung »Pärchen Morde« liefen, waren rätselhaft. Niemand hatte eine Erklärung oder eine wenigstens halbwegs einleuchtende Theorie - nicht einmal das FBI und sein Violent Criminal Apprehension Program - kurz VICAP -, dem eine landesweite Datenbank zur Verfügung stand, die über einen Computer lief, der in der Lage war, vermißte Personen nicht identifizierten Leichen zuzuordnen und Serienverbrechen aufzuzeigen.
    Als vor mehr als zwei Jahren das erste Paar gefunden worden war, hatte man ein VICAP-Regionalteam um Hilfe gebeten. Es bestand aus FBI Special Agent Benton Wesley und dem »alten Hasen« Pete Marino. Ein weiteres Paar verschwand. Und noch eines. Und ein viertes. In allen vier Fällen waren die vermißten Teenager tot und verwesten irgendwo in einem Waldstück, ehe die Meldung VICAP erreichte, ja noch ehe NCIC - das National Crime Info Center - ihre Beschreibungen an sämtliche Polizeistationen der USA hatte durchgeben können.
    Ich erreichte die I-64 East und beschleunigte. In meinem Kopf tauchten Erinnerungen auf an Stimmen, Knochen, verrottete Kleidungsstücke unter faulenden Blättern, hübsche junge Gesichter
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