Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Im Auge des Orkans

Im Auge des Orkans

Titel: Im Auge des Orkans
Autoren: Marcia Muller
Vom Netzwerk:
denen
er Neal an die Kehle hatte fahren wollen.
    »Es war ein Autounfall«, fuhr Neal
fort. »Nach einer Party an einem eisigen Sonnabendabend im Dezember. Er war
betrunken, aber der andere Fahrer war noch betrunkener. Und er war so gebrochen
und fühlte sich so schuldig, daß sie ihm Bewährung gaben. Er fuhr nach Hause,
und sie steckten ihn zur Erholung in eine Klapsmühle.«
    Neals Gesicht hatte rote Flecken
bekommen. Er fuchtelte wie wild mit den Armen. »Sicherlich hat er dir auch
vorgemacht, daß er in Paris bei den berühmtesten Küchenchefs gearbeitet hat.
Dabei hat er sein ganzes Wissen aus Büchern, die er in der Klapsmühle las, und
aus dem Kochunterricht, den sie dort als Therapie veranstalteten. Er ist ein
Betrüger, Patsy, und ich habe es satt, ihn zu decken, weil — «
    »Hör auf!« befahl da Sam mit dröhnender
Stimme hinter mir. Er stand unter dem Torbogen zur Halle, das Gesicht hart vor
Ärger. Während er auf seinen Bruder zuging, um ihn zur Vernunft zu bringen,
sprang Patsy auf die Füße und rannte aus dem Zimmer. Als sie mich zur Seite
stieß, hörte ich sie schluchzen. Die drei Kinder beobachteten die Szene
sprachlos.
    Evans lief hinter Patsy her, Denny sah
Stephanie an, deren Miene unergründlich war. Mir schien, als sei kurz ein
Zeichen von Interesse oder Befriedigung oder Schadenfreude über ihr Gesicht
gezuckt.
    Neals hysterischer Anfall war vorbei.
Sam führte ihn zu einem Stuhl und drückte in darauf. Neal wirkte wie benommen,
als habe er sich physisch völlig verausgabt.
    Sam kam zu mir. »Sie wußten über Evans
Bescheid?« fragte ich. »Ja.«
    »Warum haben Sie es mir nicht erzählt?«
    »Das war seine Sache.«
    »Und die Sache meiner Schwester.«
    »Er hatte vor, es ihr zu sagen.« 1
    »Wann? In fünf Jahren? In zehn?
Begreifen Sie eigentlich, was sie jetzt durchmacht?«
    »Ich kann nicht den lieben Gott
spielen. Und Sie auch nicht.«
    Ich seufzte und tastete mir mit der
Hand über Wange und Hals. Die Haut fühlte sich feucht an. Trotz der Kälte
schwitzte ich. »Vielleicht haben Sie recht. Was werden wir noch alles
entdecken, ehe der Sturm nachläßt?« Er schwieg. »Wie geht es Angela?«
    »Im Augenblick ist sie okay. Sie hat
Schlaftabletten genommen. Ich habe ihr zwei gegeben und gewartet, bis sie zu
wirken begannen. Wie ist hier die Lage?«
    »Schlecht. Ich mußte ihnen die Wahrheit
über Tin Choy Won sagen.«
    »Wie haben sie sie aufgenommen?«
    »Schwer zu beurteilen. Jedenfalls hat
diese Neuigkeit den Ausbruch bewirkt, den Sie eben miterlebt haben.« Ich
deutete mit dem Kopf auf Neal. »Wird er vernünftig bleiben?«
    »Er wird viele Tage friedlich sein.«
    »Er ist manisch-depressiv, nicht wahr?«
    »So hat man mir gesagt. Ich verstehe
nichts von diesen Fachausdrücken, mit denen man solche Dinge etikettiert.«
    »Ich auch nicht.«
    »Also, was nun?«
    Ich zögerte und versuchte, meine
Gedanken zu ordnen. Aber warum schwitzte ich so, obwohl es hier drin so kalt
war?
    »Sharon, sind Sie in Ordnung?« Sam
packte meine Rechte mit seinen beiden Händen. Sie fühlten sich trocken und kühl
an. Meine waren heiß und feucht.
    Und dann ertönte ein ohrenbetäubender
Krach. Das Haus schien zu bersten, als öffnete sich die Erde. Aber es war kein
Erdbeben. Irgend etwas Schweres mußte die Hauswand getroffen haben. Denny und
Stephanie schrien auf, die Kinder brüllten. Sam sagte: »Mein Gott!« warf sich
auf den Boden und zog mich mit sich. Über uns ertönte ein lautes Klirren und
Splittern. Ich hob die Augen und blickte zur Decke, während irgendwo im ersten
Stock ein Glasregen niederging.

25
     
    »Vermutlich ist der ganze Baum aufs
Haus gefallen«, sagte Denny.
    »Gehen wir lieber rauf nachsehen«,
meinte Stephanie. Die beiden liefen um mich und Sam herum und verschwanden in
der Halle. Sam nahm die Hände von meinen Schultern. Ich richtete mich auf und
half ihm dann, auch hochzukommen. Er lächelte entschuldigend. »Tut mir leid.
Ich war in Vietnam, und als ich den Krach hörte, habe ich mich aus einem Reflex
heraus — «
    »Sie brauchen mir nichts weiter zu
erzählen«, unterbrach ich ihn. Dann fielen mir die Kinder ein. Andrew hatte
sich unter der Decke verkrochen, unter den kleinen Hügeln zu seinen beiden
Seiten mußten seine Schwestern stecken. Er lächelte mich kläglich an. Ich kroch
zu ihm und berührte ihn an der Schulter. »Bist du in Ordnung?«
    »Hm... ja.«
    »Jessamyn? Kelley?« Ich hob den
Deckenzipfel und spähte in ihre entsetzten Gesichter. »Kein großes
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher