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Ilium

Titel: Ilium
Autoren: Dan Simmons
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Hannah?«
    »Beiden geht es besser«, sagte Ada. Daeman war nie aufgefallen, wie makellos grün die Augen der jungen Frau waren. »Harman ist heute Morgen aufgestanden und frühstückt unten, und Hannah lernt gerade wieder laufen. Im Augenblick ist sie draußen auf der Wiese vor dem Haus, in der Sonne.«
    Daeman nickte und schloss die Augen. Er verspürte den überwältigenden Drang, sie geschlossen zu lassen und wieder in Träume und Schlaf zu driften. Dort tat es nicht so weh, und momentan schmerzte und brannte sein rechter Arm schrecklich. Auf einmal schlug er die Augen auf und zog die Decke von seinem Arm, von der schrecklichen Gewissheit erfüllt, dass sie die Gliedmaße amputiert hatten, während er schlief, und dass er jetzt nur den Phantomschmerz eines Phantomglieds spürte.
    Der Arm war rot, geschwollen und zernarbt, aber er war dran. Die Wunde von Calibans schrecklichem Biss war mit dickem Faden vernäht. Daeman versuchte, den Arm zu bewegen und mit den Fingern zu wackeln. Vor Schmerz sog er scharf die Luft ein, aber die Finger hatten sich bewegt, der Arm hatte sich ein Stück weit gehoben. Er ließ ihn wieder aufs Laken sinken und rang eine Weile nach Luft.
    »Wer hat das gemacht?«, fragte er kurz darauf. »Die Nähte? Servitoren?«
    Odysseus trat näher ans Bett. »Ich habe die Wunde genäht«, sagte er.
    »Die Servitoren funktionieren nicht mehr«, erklärte Ada. »Nirgends. Die Faxknoten sind noch in Betrieb, daher bekommen wir Nachrichten von überall – die Servitoren sind defekt, die Voynixe verschwunden.«
    Daeman nahm es mit einem Stirnrunzeln zur Kenntnis und versuchte, daraus schlau zu werden, aber ohne Erfolg. Harman kam herein; er benutzte einen Spazierstock als Krücke. Daeman sah, dass er seinen Bart behalten, aber offenbar gestutzt hatte. Er setzte sich auf einen Stuhl am Bett und packte Daemans linken Arm. Daeman schloss einen Moment lang die Augen und erwiderte einfach nur den festen Griff. Als er die Augen aufschlug, tränten sie. Übermüdung, dachte er.
    »Der Meteorschauer flaut ab, er wird jeden Abend ein bisschen schwächer«, sagte Harman. »Aber es hat Opfer gegeben. Tote. Allein in Ulanbat sind über hundert Menschen gestorben.«
    »Tote?«, wiederholte Daeman. Das Wort hatte seit sehr, sehr langer Zeit keine echte Bedeutung mehr gehabt.
    »Ihr musstet wieder ganz von neuem lernen, Bestattungen durchzuführen«, sagte Odysseus. »Kein Hochfaxen in eine glückliche Ewigkeit als unsterbliche Nachmenschen in den Ringen mehr. Die Menschen begraben ihre Toten und versuchen, sich um die Verletzten zu kümmern.«
    »Paris-Krater?«, brachte Daeman heraus. »Meine Mutter?«
    »Es geht ihr gut«, sagte Ada. »Die Stadt ist nicht getroffen worden. Jeden Tag kommen Boten mit neuen Nachrichten. Sie hat dir einen Brief geschickt, Daeman – sie hat Angst zu faxen, ehe sich nicht alles wieder beruhigt hat. So geht es vielen. Jetzt, wo die Servitoren und die Voynixe nicht mehr da sind und überall der Strom ausgefallen ist, wollen die meisten Menschen nicht reisen, wenn es nicht unbedingt sein muss.«
    Daeman nickte. »Wie kommt es, dass der Strom ausgefallen ist, die Faxknoten aber noch funktionieren? Wo sind die Voynixe? Was geht da vor?«
    »Das wissen wir nicht«, sagte Harman. »Aber der Meteorschauer hat kein – wie hat Prospero es genannt? – kein Auslöschungs-Ereignis zur Folge gehabt. Darüber können wir froh sein.«
    »Ja«, sagte Daeman, aber bei sich dachte er: Also waren Prospero und Caliban und Savis Tod real – das war nicht nur alles ein böser Traum? Er bewegte erneut den rechten Arm, und der Schmerz beantwortete die Frage.
    Hannah kam herein. Sie trug ein schlichtes weißes Hemd. Auf ihrer Kopfhaut schien sich ein feiner Flaum gebildet zu haben. Ihr Gesicht sah in jeder Hinsicht menschlicher und lebendiger aus. Sie trat an Daemans Bett, beugte sich herunter, wobei sie darauf achtete, seinen Arm nicht zu berühren, und küsste ihn fest auf die Lippen. »Danke, Daeman. Danke«, sagte sie. Sie gab ihm ein kleines Vergissmeinnicht, das sie draußen im Garten gepflückt hatte, und er nahm es ungeschickt in die linke Hand.
    »Gern geschehen«, sagte Daeman. »Der Kuss hat mir gefallen.« Das stimmte. Es war, als wäre er – Daeman, der eifrigste Schürzenjäger der Welt – noch nie geküsst worden.
    »Das ist interessant«, sagte Hannah und entfaltete ein zerknülltes Turin-Tuch, das sie in der anderen Hand hielt. »Ich habe es unten am alten Eichentisch gefunden, aber es
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