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Idol

Idol

Titel: Idol
Autoren: R Merle
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15. April 1573 trat ein Ereignis ein, das Tarquinia hätte absehen können, hätte sie ihrer Umgebung ebensoviel Aufmerksamkeit
     gewidmet wie ihren ehrgeizigen Zielen: Mein Onkel Bernardo starb. Er hatte es sich niemals verziehen, meinen Vater während
     der Pest allein in Gubbio zurückgelassen zu haben. Der Niedergang der Majolikamanufaktur, der Umzug Tarquinias nach Rom, die
     Trennung von seiner geliebten Tochter, die ständigen Geldforderungen ihrer Mutter, die Schulden, die er deshalb gemacht hatte
     – das alles erschien ihm wie eine Strafe Gottes. Und weit davon entfernt, gegen sein Unglück anzukämpfen, wartete er nur darauf,
     von ihm zermalmt zu werden.
    Die Nachricht wurde uns eines Tages Schlag zwölf Uhr von Flamineo überbracht, der zu Pferde ganz allein, ohne Eskorte von
     Gubbio herangehetzt war. Völlig verschmutzt, das Haar zerzaust, das Wams geöffnet, erschien er in Stiefeln in dem Saal, in
     dem wir unsere Mahlzeit einnahmen, und Tränen rannen über sein Gesicht. Als er Tarquinia erblickte, stürzte er auf sie zu,
     mit ausgebreiteten Armen, als wolle er sich an ihre Brust flüchten, und rief voll Verzweiflung:
    »Vater ist tot! Wir sind ruiniert!«
    Tarquinia erhob sich, kreidebleich, und ging auf ihn zu; doch sie schloß ihn nicht etwa in ihre Arme, sondern runzelte die
     Brauen, legte ihm die Hand auf den Mund und flüsterte ihm wütend ins Ohr:
    |21| »Bist du wahnsinnig, vor den Dienerinnen zu sagen, wir seien ruiniert? Willst du, daß morgen ganz Rom davon weiß?«
    »Ach Mutter, Mutter, Mutter!« schrie Vittoria, immer lauter werdend und weiterer Worte unfähig, stand vom Tisch auf und stürzte
     mit wehendem Haar aus dem Zimmer.
    »Giulietta«, sagte Tarquinia, ohne mit der Wimper zu zucken, »geh ihr nach und sorge dafür, daß sie sich nicht, wie sonst
     immer, in ihrem Zimmer einschließt. Ich gehe heute abend zu ihr.«
    Sprachlos über so viel Kaltblütigkeit, erhob ich mich.
    »Mein Sohn«, wandte sie sich dann an Flamineo, »wie siehst du aus! Nachlässig gekleidet und schmutzig! Zieh dich in deine
     Gemächer zurück und mach Toilette! Ich werde dich in einer knappen Stunde dort aufsuchen. Wir haben miteinander zu reden.«
    Um in Vittorias Zimmer zu gelangen, mußte ich das ganze Haus durchqueren, wo bereits überall das Wehklagen der Dienerschaft
     zu hören war. Bernardo war zweifellos ein guter Herr gewesen, und mancher fürchtete um seine Stellung, wenn der Haushalt nun
     eingeschränkt würde. Doch sie weinten auch aus Höflichkeit, weil es sich so gehörte bei einfachen Leuten und um uns zu zeigen,
     daß sie unsere Trauer teilten. Vor allem die Dienerinnen überließen sich ihrem Kummer mit Hingabe; bei Geburten, Hochzeiten
     und Todesfällen waren sie immer sehr darauf bedacht, durch entsprechende Gefühlsausbrüche ihre Verbundenheit mit der Herrschaft
     zu zeigen.
    Am Fuße der Treppe zum Oberstock begegnete ich Marcello, prächtig anzusehen in seinem Wams aus blaßgelbem Atlas, den Dolch
     an der Seite. Er hielt mich am Arm zurück und sagte:
    »Ich komme gerade aus Amalfi. Was bedeutet dieses Geheul hier? Niemand kann mir vernünftig erklären, was passiert ist. Weißt
     du es?«
    »Dein Vater ist gestorben.«
    »Ach je«, sagte er.
    Seine großen schwarzen Augen blieben trocken, nichts regte sich in seinem schönen Gesicht.
    »Na gut«, sagte er dann, »das war vorherzusehen. Warum hat er sich zum Sklaven und Lasttier von diesem Mannweib machen lassen!
     Wo ist Vittoria?«
    |22| »In ihrem Zimmer. Ich gehe jetzt zu ihr.«
    »Gut«, meinte er und verzog seine Oberlippe zu einem ironischen Lächeln. »Weint nur! Weint ihr nur alle zusammen! Tränen haben
     etwas Wollüstiges. Ich aber kann solch Gejammer nicht aushalten und werde mich in mein Zimmer einschließen. Ich werde es nur
     verlassen, um Tarquinia zu sagen, was nun zu tun ist, jetzt da – zum großen Teil durch ihre Schuld – unser Ruin besiegelt
     ist.«
    »Sag es mir lieber gleich!« fuhr Tarquinia dazwischen, die plötzlich vor uns auftauchte. »Aber in meinem Zimmer, wo wir vor
     fremden Ohren sicher sind. Nein, Giulietta, bleib da! Dein gesunder Menschenverstand wird uns von Nutzen sein.«
    Während sie sprach, nahm sie Marcellos Arm, als wollte sie ihn mit sich ziehen, er riß sich jedoch heftig los und zischte:
    »Faßt mich nicht an! Ihr wißt genau, daß ich es hasse, angefaßt zu werden!«
    »Auch von Vittoria?« fragte Tarquinia bissig.
    »Gerade von ihr!« antwortete Marcello mit wutverzerrtem
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