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Ich wuenschte, ich koennte dich hassen

Ich wuenschte, ich koennte dich hassen

Titel: Ich wuenschte, ich koennte dich hassen
Autoren: Lucy Christopher
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doch anfangen zu sprechen. Mum war immer bei mir, auch sie drängte mich. Irgendwann zeigten sie mir dann auch Fotos. Auf manchen warst du. Auf manchen irgendwelche andern Männer.
    »Ist es der hier?«, fragten sie immer wieder, während sie die Fotos für mich durchblätterten. Sie ließen nicht locker.
    Du warst so leicht zu erkennen – der einzige Mann mit Feuer in den Augen. Der einzige Mann, den ich wirklich anschauen konnte. Es kam mir so vor, als würdest du nur für mich in die Kamera blicken; als wäre dir klar, dass ich diese Fotos später ansehen und dich suchen würde. Du sahst stolz aus auf diesen Bildern. So stolz, wie ein Mensch sein kann, wenn er vor der versifften Wand einer Polizeistation steht. Unter deinem Auge war eine frische Wunde. Ich hätte dieses Foto gern behalten. Aber natürlich steckte der Kommissar es wieder zurück in den braunen Briefumschlag zu den andern Aufnahmen.
    Das alles zog sich lange hin. Ein paar Tage mindestens. Aber am Ende machte ich die Zeugenaussage, die sie haben wollten. Ich konnte nicht anders.
    Die Zeit verschwamm durch ständige Befragungen und Behandlungen. Ich war öffentliches Eigentum geworden. Anscheinend konnte mich jeder fragen, was immer er wollte. Nichts war tabu. Die Polizistin wollte sogar wissen, ob wir Sex gehabt hatten.
    »Hat er Sie dazu gezwungen, ihn anzufassen?«, fragte sie.
    Ich schüttelte den Kopf. »Nie.«
    »Sind Sie sicher?«
    Ich redete mit Psychologen und Therapeuten, mit Ärzten für dies und Ärzten für das. Jeden Tag nahm mir eine Krankenschwester Blut ab. Ein Arzt überprüfte meinen Herzschlag auf Unregelmäßigkeiten. Auch der Schock wurde behandelt. Keiner ließ mich in Ruhe. Schon gar nicht die Psychologen.
    Eines Nachmittags kam eine Frau in einem blauen Hosenanzug, die Haare zu einem Bob geschnitten, und setzte sich neben mein Bett. Der Tag war schon fast vorbei; ich hatte auf das Rattern des Essenswagens gelauscht.
    »Ich bin Dr. Donovan«, sagte sie. »Ärztin für Psychiatrie hier am Krankenhaus.«
    »Ich hab genug von dem ganzen Psychokram.«
    »Kann ich verstehen.« Trotzdem ging sie nicht. Sie beugte sich nur ein Stück vor zu dem Klemmbrett am Ende von meinem Bett und blätterte darin. »Weißt du, was das Stockholm-Syndrom ist?«, fragte sie.
    Ich antwortete nicht. Sie warf mir einen Blick zu, bevor sie selbst etwas auf dem Klemmbrett notierte.
    »Wenn das Opfer eine positive emotionale Bindung zu dem Täter aufbaut«, erklärte sie, während sie sich weiter Notizen machte. »Manchmal ist das einfach eine Überlebensstrategie. Die Bindung sorgt zum Beispiel dafür, dass man sich sicherer fühlt in Gegenwart von dem, der einen gefangen hält. Sie kann auch aus Mitleid mit dem Entführer entstehen … Vielleicht ist ihm irgendwann im Leben einmal Unrecht geschehen und du willst das wiedergutmachen … du beginnst Verständnis für ihn zu entwickeln. Es gibt aber auch andere Gründe. Isolation zum Beispiel: Wenn man ganz allein mit dem Entführer ist, muss man irgendwie mit ihm klarkommen, sonst erleidet man tödliche Langeweile … Vielleicht gibt dir der Täter aber auch das Gefühl, jemand Besonderes zu sein, geliebt zu werden …«
    »Ich hab keine Ahnung, worauf Sie hinauswollen«, unterbrach ich sie. »Ich fühle jedenfalls nicht so.«
    »Das habe ich auch nicht behauptet. Ich habe mich nur gefragt, ob du davon weißt.« Sie sah mich ganz genau an, mit einer hochgezogenen Augenbraue. Ich wartete darauf, dass sie weiterredete. Ein bisschen neugierig war ich schon. »Egal, was er getan hat«, fuhr sie leise fort, »egal, was Tyler MacFarlane getan oder gesagt hat – du weißt, dass das, was er gemacht hat, nicht richtig war, oder, Gemma?«
    »Sie klingen wie meine Mutter«, sagte ich.
    »Ist das denn so schlimm?«
    Als ich darauf nicht antwortete, seufzte sie tief und zog ein dünnes Buch aus ihrer Aktentasche.
    »Du wirst bald entlassen«, sagte sie. »Aber die Ärzte werden nicht aufhören, dich zu löchern, bis du verstehst, bis dir klar ist, was Tyler MacFarlane getan hat …«
    »Ich weiß doch, dass es falsch war, was Ty gemacht hat«, unterbrach ich sie leise. Und ich wusste es wirklich, oder? Trotzdem wollte ein Teil von mir ihr nicht ganz glauben. Ein Teil von mir hatte verstanden, warum du es getan hattest. Und es ist schwer, jemanden zu hassen, wenn man ihn versteht. Ich war total verwirrt.
    Dr. Donovan schwieg und betrachtete mich, gar nicht mal unfreundlich. »Vielleicht brauchst du jemanden,
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