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Ich träume deutsch

Ich träume deutsch

Titel: Ich träume deutsch
Autoren: Nilgün Tasman
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traurig zugleich, und immer ging es um die Heimat. Allerdings gefiel das unseren deutschen Nachbarn nicht. Die bekamen nämlich nie Besuch.
    Ali Amca sagte immer: „Die Deutschen sind anders als wir. Sie haben keine Freunde und unterhalten sich nur kurz auf der Straße.“
    Es war in der Tat so, wie Ali Amca es beschrieb. Die Deutschen bekamen nie Besuch, aber sie redeten dafür beim Bäcker und im Supermarkt sehr lange mit den Verkäuferinnen oder unterhielten sich mit ihren Nachbarn auf der Straße.
    Anne sagte: „Jedes Land hat seine eigenen Sitten, deshalb sind wir Türken anders und werden es auch immer bleiben!“
    Wir sahen unsere Nachbarn morgens, wenn sie zur Arbeit gingen, und abends, wenn sie wieder zurückkamen. Manchmal wurde es bei uns sehr laut, wenn viele Freunde da waren. Dann klopften die Nachbarn von oben auf den Fußboden oder sie klingelten und baten um mehr Ruhe. Meine Anne ging dann gleich in die Küche, holte einen Teller mit Gebäck, drückte ihn dem Nachbarn in die Hand und entschuldigte sich. Danach stellten alle fest, dass es die Deutschen mit uns auch wirklich nicht immer einfach hätten. Wir wären eben anders, viel gastfreundlicher und warmherziger als die Deutschen. Dabei lächelten sich alle zufrieden und stolz an.
    Unsere Eltern verließen das Haus morgens sehr früh, um zur Arbeit zu gehen. Meine Schwester wurde jeden Morgen von unserer Kuckucksuhr geweckt und kam trotzdem immer zu spät in die Schule. Ihre Lehrerin schickte ihr sogar mal einen Brief nach Hause. Aber den zerriss Mine gleich. Ich blieb mit unserem Kater Tekir alleine, bis Mine mittags zurückkam. |12| Das durfte niemand wissen, da mich sonst das Jugendamt geholt hätte.
    „Die Deutschen kennen da keine Gnade, Nilgün! Du darfst eigentlich nicht alleine zu Hause bleiben. Die nehmen dich einfach mit, und du musst bei einer deutschen Familie leben, und wir würden uns nie wieder sehen“, sagte Anne jeden Morgen, bevor sie aus dem Haus ging.
    Ich durfte das Haus ohne Mine nicht verlassen, aber ich durfte aus dem Fenster schauen. Und für den Fall, dass mich jemand fragen würde, wo meine Anne ist, hatte ich eine überzeugende Antwort auswendig gelernt:
    „Meine Mama ist Brot kaufen gegangen. Ich darf nicht mit Fremden sprechen, und sie kommt in fünf Minuten zurück!“ Eigentlich war ich ja auch nie alleine. Unser Kater Tekir war immer bei mir.
    Tekir war auch „Türke“ und verstand kein deutsch, wie unsere Eltern. Meine Anne sagte immer: „Tekir ist ein Stück Heimat, und eines Tages wird er mit uns für immer zurückkehren!“ Dabei glänzten Tränen in ihren Augen.
    Tekir und ich saßen stundenlang am Fenster, und ich kann mich nicht erinnern, dass es mir irgendwann einmal langweilig geworden wäre, denn es gab immer etwas zu sehen und zu entdecken.
    In unserer Straße lebten natürlich auch andere Kinder. Die meisten von ihnen waren schon in der Schule, so wie meine Schwester Mine.
    Paola und Giuseppe gingen in die gleiche Schule. Mine und ich waren fast jeden Tag mit den beiden zusammen. Obwohl unsere Eltern kein Italienisch und kein Deutsch sprachen und die Eltern von Paola und Giuseppe auch nur italienisch konnten, mochten sie sich sehr. Sie konnten sich sogar, jeder in seiner Sprache, verständigen. „Menschen müssen |13| nicht die gleiche Sprache sprechen, um sich zu mögen“, sagte Anne.
    Von unserem Wohnzimmerfenster aus konnten wir zu Familie Schäufele sehen. Das waren ganz feine Menschen, und sie hatten als Einzige in der Straße ein großes Haus, das sie ganz alleine bewohnten. Sie hatten nur eine Tochter. Ihr Name war Helene.
    Helene spielte immer alleine und ab und zu schaute sie aus dem Fenster und lächelte mich an. Ich hatte noch nie mit ihr gesprochen oder mit ihr gespielt. Ich wusste nur, dass sie Helene hieß. Helene durfte nicht mit uns spielen. Ihr Papa wollte das nicht. Ich wusste nicht, was er dagegen hatte, aber vielleicht lag es auch daran, dass sie erst vor kurzem in unsere Straße gezogen waren und uns nicht kannten. Mein Baba mochte Herrn Schäufele gar nicht. „Der meint, er sei was Besseres, weil er Beamter ist und auf dem Rathaus arbeitet, dieser Eşoleşek!“, schimpfte er jedes Mal, wenn es um Herrn Schäufele ging. Ich mochte Herrn Schäufele sehr. Ich war mir sicher, dass er ein wichtiger Mann sein musste. Herr Schäufele trug jeden Tag einen Anzug und eine Krawatte. Er ging jeden Morgen um die gleiche Zeit aus dem Haus und kam auch immer um die gleiche Zeit
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