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Ich sehe dein Geheimnis

Ich sehe dein Geheimnis

Titel: Ich sehe dein Geheimnis
Autoren: Kim Harrington
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Gedanken und schon bald hielten wir in unserer Einfahrt. Unser viktorianisches Haus war in einer Farbe gestrichen, die ich »Spukhaus-Lavendel« nannte. Es war von einem alten gusseisernen Gitter umgeben und hatte hohe Bogenfenster, Giebel, eine mit Stuck umrandete Tür und ein Türmchen. Vor dem Haus stand ein Schild:
    SÉANCEN – FAMILIE FERN.
    Ich spurtete in die Diele – auch bekannt als Wartezimmer – und ließ die Tüte mit meinem Frühstück auf den Boden fallen. Mom musste das Wahrsagen ohne uns begonnen haben. Ich öffnete die Tür zum Wohnzimmer – auch bekannt als unser Séancezimmer –, einem langen, engen Raum mit hohen Decken und dekorativen Zierleisten an den Wänden. Vor den Fenstern hingen dicke rote Samtvorhänge. Eine große Kerze brannte in der Mitte des Tischs und auf dem Kaminsims standen kleine Votivkerzen.
    Meine Mutter sah mich an, als hätte ich auf den Boden gespuckt.
    »Wie nett, dass du vorbeischaust.«
    »Entschuldige die Verspätung.« Perry schob sich mit breitem Lächeln hinter mir ins Zimmer.
    Ich begrüßte ein ungefähr fünfzigjähriges Paar, das an unserem langen Mahagonitisch saß. Die Frau war groß und dünn, trug ein gelbes Sommerkleid und einen großen Strohhut. Ihr Mann trug die Uniform aller Touristen: khakifarbene Shorts und ein geblümtes Seidenhemd.
    Ich setzte mich nicht neben meine Mutter, die am liebsten zwischen ihren Kindern saß, sondern neben Perry – um auf mich loszugehen, hätte Mom zuerst ihn überwinden müssen. Er tätschelte meine Schulter. Perrys größtes Talent war es, andere zu beruhigen und ihnen das Gefühl zu geben, alles werde gut.
    Mom seufzte und faltete die Hände. »Wegen der Unterbrechung brauche ich noch eine Minute, um in den meditativen Zustand zu gelangen.«
    Sie brauchte keine Minute. Sie brauchte auch kein gedämpftes Licht, keine Kerzen, keine Kammermusik und den ganzen restlichen Mist. Ihre Gabe funktionierte, wann immer sie es wollte, sie musste nur genau hinhören. Aber die Kunden erwarteten ein solches Brimborium, also bekamen sie es.
    Die Gabe meiner Mutter war die verlässlichste von den in unserer Familie vorkommenden Fähigkeiten. Zum Glück hörte Mom nicht die ganze Zeit Stimmen; das würde sie wahrscheinlich verrückt machen. Aber sobald sie sich auf eine Person in ihrer Nähe konzentrierte, konnte sie deren Gedanken lesen. Allerdings nur die, die gerade gedacht wurden, man konnte also leicht etwas vor ihr verbergen. Wenn ich zum Beispiel ein Problem in der Schule hatte, nicht darüber reden wollte und glaubte, meine Mutter wühle mal wieder in meinen Gedanken herum, dachte ich oft einfach an ekelhafte Dinge – an einen schmutzigen Aschenbecher oder Szenen aus meinem liebsten Horrorfilm. Dann ließ sie mich in Ruhe.
    Mom räusperte sich und öffnete die Augen. »Mr Bingham, Sie sind ein Ungläubiger. Sie halten uns für Betrüger.«
    Mr Bingham nickte. »Das stimmt, aber das beweist gar nichts. Ich bin sicher, dass achtzig Prozent der Leute, die zu Ihnen kommen, Sie für Betrüger halten. Vor allem die Männer, die von ihren Frauen hierher gezerrt werden. Männer sind eben … rationaler.«
    Perry zwickte mir unter dem Tisch warnend ins Knie, damit ich diesem Idioten keine Ohrfeige verpasste.
    Dann wandte sich Mom an die Frau: »Mrs Bingham, Sie glauben an uns, aber Sie machen sich Sorgen, was wir zu sagen haben. Sie fragen sich, was wir machen, wenn wir Ihren baldigen Tod voraussehen. Sie fragen sich, ob wir es Ihnen sagen würden.«
    Mrs Bingham schnappte nach Luft: »Genau das habe ich gedacht!«
    Mr Rational stöhnte. »Gut geraten. Auch das fragen sich bestimmt achtzig Prozent der Leute, die hierher kommen.«
    Ich mischte mich ein: »Wussten Sie, dass achtundneunzig Prozent der Statistiken frei erfunden sind?«
    Unter dem Tisch versetzte Perry mir einen Tritt.
    Mom warf mir einen Blick zu, der Feuer zu Eis gefrieren lassen könnte. »Sie haben recht, Mr Bingham, diese Frage wird uns am häufigsten gestellt. Tatsächlich erzählen wir niemandem, dass er sterben wird, weil wir ehrlich gesagt nicht in die Zukunft sehen können.«
    »Ha! Sie geben es also zu!« Vor Aufregung sprang er vom Stuhl auf, als hätte er gerade herausgefunden, wie die Kernspaltung funktioniert.
    »Das haben Sie missverstanden, Mr Bingham«, sagte Perry mit seiner sanften, beruhigenden Stimme. »Wir haben nie behauptet, die Zukunft vorhersagen zu können. Unser Wahrsagen funktionieren nicht auf diese Art.«
    »Was machen Sie denn sonst?«,
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