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Ich schlage vor, dass wir uns küssen (German Edition)

Ich schlage vor, dass wir uns küssen (German Edition)

Titel: Ich schlage vor, dass wir uns küssen (German Edition)
Autoren: Rayk Wieland
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Verbindung
    Von einer- und andrerseits.
    Kein Konjunktiv, nirgends. Die Zeit des Konjunktivs war wohl vorbei, endgültig erledigt, abgelaufen.

    Mit den zwei Leitzordnern in der Tasche, einer Flasche Margaux, Cigarren und dem Mauergedicht, das ich ihr widmen wollte, machte ich mich auf den Weg zu Frau Schneider, die in Lichtenberg wohnte, in einem Plattenbau, wie ich beim Einbiegen in ihre Straße feststellte.
    Ich war etwas zu früh. Dreimal Schneider entdeckte ich auf den Klingelschildern. Ich läutete überall, der Türsummer wurde betätigt, und ich fuhr mit dem Fahrstuhl aufs Geratewohl in den siebten Stock. Da wartete sie auch schon, begrüßte mich wie einen alten Vertrauten und wirkte jetzt noch mädchenhafter als sowieso. Wir gingen in ihre Wohnung, eine winzige, vieleckige Höhle, vollgestellt mit alten Möbeln, Schrankwänden und hanebüchenem Firlefanz. Überall Teppiche, die mit Brücken unter- und übereinander zu einem geschlossenen Teppichverbundsystem arrangiert waren. Im Sessel der Couchgarnitur im Wohnzimmer saß ein älterer, vom Leben grau gefalteter, aber immer noch alerter Herr, der sich mit der Faust über die Glatze strich.
    »Herr Schneider, mein Vater«, stellte sie ihn vor. »Und das ist Herr W., mein ehemaliger Untergrunddichter, der keiner sein will.«
    Sie war wirklich charmant.
    »Schneider«, sagte er.
    »W.«, sagte ich.
    Wir gaben uns die Hand. Er kam mir irgendwie bekannt vor.
    »W. ist Ihr Name?« fragte er mit routinierter Forschheit. Ich bejahte. Diese Stimme …
    »Sind wir uns schon begegnet?« fragte ich sicherheitshalber.
    »Vielleicht im Untergrund, wo Sie nicht sein wollten?« gab er lachend zurück. Er blickte um sich. »Entschuldigen Sie, ich wollte sowieso langsam aufbrechen. Lassen Sie sich auf keinen Fall stören. Wünsche den jungen Herrschaften einen guten Abend!«
    Sprach’s und huschte flink vorbei an etlichen Türen. Frau Schneider eilte ihm nach. Als sie zurückkehrte, zuckte sie mit den Achseln. Ihr Vater sei öfter etwas komisch, das dürfe ich nicht persönlich nehmen.
    »Ich werde es stark versuchen«, sagte ich und fiel in den Sessel, in dem eben noch er gesessen hatte. »Aber jetzt brauche ich etwas zu trinken.«
    Sie beugte sich zu mir, und ich roch, wie sie roch. »Herr W., ist Ihnen nicht gut?«
    »Ihr Vater …«, sagte ich.
    »… was ist mit ihm?«
    »Kennen Sie ihn schon lange?«
    Sie lachte, und sie hörte gar nicht mehr auf zu lachen, und sie lachte auf eine so befreiende Weise, daß ich mitlachen mußte. Sie schien sich gar nicht mehr beruhigen zu können, und nachdem sie es irgendwann doch tat, wischte sie sich die Tränen aus den Augen und sagte: »Wenn das den ganzen Abend so geht, brauchen wir unbedingt eine Stärkung.«
    Ich hatte nichts dagegen.

    Wir aßen, und wir plauderten, und wir alberten, und wir tranken den Wein. Sie ähnelte, registrierte ich mit Erleichterung, ihrem Vater eher weniger, eher überhaupt nicht.
    »Und Sie haben es wirklich geschrieben, das ›Lob auf die Mauer‹?«
    »Ich dachte, es sei an der Zeit«, sagte ich.
    Sie prustete wieder los. Und ich fiel bereitwillig in ihr Lachen ein.
    Dann räumte sie das Geschirr beiseite. »Durch die Durchreiche, alles ganz praktisch.« Mit der Fernbedienung entzündete sie einen digitalen Kamin, der auf dem Flachbildschirm des Fernsehers losflackerte.
    »Also. Sie sind dran«, sagte sie und lehnte sich, mit dem Weinglas auf mich weisend, zurück.
    Ich brannte mir eine Cigarre an.
    »Ich beginne von vorn?« fragte ich.
    »Ich bitte darum«, sagte sie.
    »Leicht gesagt. Wo fange ich an? Es ist wirklich ziemlich unübersichtlich, chaotisch. Regelrecht verknäult. Es ändert sich immer wieder. Jeden Tag gibt es Überraschungen. Sie, glaube ich, kommen auch drin vor. Würde mich nicht wundern, wenn sogar Ihr Vater eine Rolle spielt.«
    Ihre Augen funkelten im Takt des künstlichen Kaminfeuers. »Sie müssen’s, glaube ich, nicht spannender machen, als es ist.«
    Ich nahm einen tiefen Zug von der Cigarre und einen noch tieferen Zug vom Margaux und versank für einen Moment in den tiefsten Tiefen des Fernsehkamins, und dann legte ich los:
    »Es war im Jahr 1988, da hatte mein Freund Bert den perfekten Plan, die DDR zu verlassen. Ausgerüstet allein mit seinem grünen
     Sozialversicherungsausweis, wollte er am Silvestertag sich über die VR Polen und die UdSSR nach Nordkorea durchschlagen und anschließend irgendwie nach
     Südkorea weiterziehen. Ein unmöglicherer Weg war schwer
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