Ich schlage vor, dass wir uns küssen (German Edition)

kann eingeschätzt werden, daß eine drohende Veröffentlichung dieser Gedichte damit im Ansatz vereitelt werden konnte.

    Wiederholt kokettiert der W. mit der sog. »Möglichkeit« und bezieht sich scheinbar ironisch auf den Konjunktiv. Hierzu ist festzuhalten: Der Konjunktiv nimmt einer Aussage das Entscheidende, die Wahrheit. Alles ist offen und ›möglich‹, nichts ist notwendig, nichts muß sein. Mit dieser erklärten Grundhaltung steht W. im offenen Widerspruch zur wissenschaftlichen Weltanschauung. Was im Konjunktiv steht, muß nicht stimmen. Alles bleibt zweifelhaft im Sinn von »angeblich« und fragwürdig. Außerdem dient der Konjunktiv dem Zweck, etwas von vorneherein in Abrede zu stellen. In einem Gedicht behauptet der W. sogar: »Real ist nicht die Realität.« Das heißt nichts anderes, als daß für den W. der real existierende Sozialismus in der DDR objektiv »real« nicht existiert.

    Die in der Beifügung 3 zum OPK ›Spiegel‹ u.a. durch die Postmaßnahme M positiv erfaßten »Liebesgedichte« an die Freundin im
NSA dokumentieren eindeutig und wiederholt konkrete Republikfluchtabsichten des W. auf dem Land- und Luftwege. Gegenüber Dritten hat sich der
W. immer wieder über seine Absicht geäußert, nach Portugal »überzusiedeln«, vorgeblich um dort am Strand zu sitzen, zu lesen und Wein zu
trinken. Das Persönlichkeitsbild des W. weist kleinbürgerliche Elemente auf.Zusammenfassend kann festgestellt werden, daß die
Texte des W. geeignet sind, die staatliche und gesellschaftliche Ordnung herabzuwürdigen, und sich deutlich an der Grenze zur strafrechtlichen
Relevanz bewegen. Insbesondere wird auf das »Sonett Nr. 66« hingewiesen, in dem sämtliche Negativtendenzen und Klischees des Klassenfeinds
gegenüber der sozialistischen Gesellschaft eindeutig auf den Punkt gebracht sind. Hier ist im Rahmen einer umfassenden Aufklärung und weiterer
operativer Maßnahmen dringend der Verbleib der anderen 65 oder mehr Sonette sicherzustellen und entsprechend operativ auszuwerten. Das Erscheinen von
Schriften diffamierenden Charakters wie diesen in der DDR oder im NSA muß mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln unterbunden werden.

F RAGE EINES JUGENDLICHEN A RBEITERS

    Am Abend steh ich vor dem Spiegel,*
    Ich grüble einfach vor hin.
    Ich frag mich, ob ich lebe oder lüge,
    Ob ich das will, was ich jetzt bin?

    Ich bohre Löcher ins Metall,
    Ich säge Eisen, biege, schraube,
    Ich löte, klopfe, schlage überall
    An meinen Kopf, damit ich’s glaube.

    Weil mein Beruf mein Herz zerstört,**
    Weil ich verlier dort das Gefühl
    Weil ich das tu, was sich gehört,
    Werd ich senilkonfus, konfus-senil.

    Der Stumpfsinn ödet mich so an.
    Ich kann dir gar nicht sagen, wie.
    Er ödet, er ödet, er ödet. Bis wann
    Das geht? Wann das aufhört? Nie.

    Ich werde hier versinken und versauern
    Bei Schaltanlagen, tief im Graben.
    In Kellern, Schächten, hinter Mauern***
    Werd ich mich selbst vergessen haben.

    Ich werd mich selbst zum Eisen gießen.
    Mein Kopf wird bald ein Schalter werden.
    Und Lötzinn wird durch meine Adern fließen.****
    Und, tja. Das war es dann auf Erden.*****

    Am Abend steh ich vor dem Spiegel,
    Ich grüble einfach vor hin.
    Ich frag mich, ob ich lebe oder lüge,
    Ob ich das will, was ich jetzt bin?

*
»Am Abend vor dem Spiegel« – Westzeitschriften? Klärung Wohnung/Umfeld/Reisekader/Devisenvergehen/ Unterhaltungskünstler
**
Zweifel an Lebensinhalt
***
»Hinter Mauern / selbst vergessen«! Gemeint hier die Staatsgrenze der Deutschen Demokratischen Republik zur BRD und zu
Berlin (West). Übernahme des gegnerischen Sprachgebrauchs / Sprachregelung durch das (auch noch im Plural!!) verwendete Wort »Mauern«. Ablehnung
der Grenzeinrichtungen der DDR als notwendige Schutzmaßnahmen gegen den Versuch einer imperialistischen Aggression. Die Wendung »selbst vergessen«
zeigt die unverhüllt eingestandene Abkehr von früheren gesellschaftlichen Aktivitäten (Wandzeitungsredakteur in der Pioniergruppe, Abzeichen Gutes
Wissen in Silber). Zweifel an Klassenstandpunkt und der Historischen Mission der Arbeiterklasse
****
W. konstruiert Entscheidung für bewußte und vorsätzliche, öffentliche Nichtteilnahme am Aufbau des Sozialismus und
am gesamten gesellschaftlichen Leben der DDR (hier auch konkretere Deutung möglich bei »Lötzinn« als Untergrund-Jugendsprache für Blödsinn,
sprich: »Blödsinn wird durch meine Adern fließen.« Absolute Negierung aller Sinn- und