Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Ich schlage vor, dass wir uns küssen (German Edition)

Ich schlage vor, dass wir uns küssen (German Edition)

Titel: Ich schlage vor, dass wir uns küssen (German Edition)
Autoren: Rayk Wieland
Vom Netzwerk:
hat sie nie gegeben.«
    »Alles klar, wie die Mauer«, ergänzte sie spöttisch, »die es ja, wie Sie am Telefon sagten, auch nicht gegeben hat?«
    »Welche Mauer?« fragte ich.
    Sie schwieg. Entsetzt. Ich war zu weit gegangen.
    »Warten Sie«, lenkte ich ein. »Wir können über die Mauer reden. Glauben Sie bitte, ich kann Ihnen nicht sagen, warum, ich weiß es wirklich nicht, aber: Eine Verteidigung, eine Apologie – nein, wenn schon, denn schon –, ein Lob der Mauer, das würde mich heute viel mehr reizen als die immer wieder gleiche Mauertrauer. Wenn ich das machen könnte auf Ihrem Symposium …«
    »Ein Lob der Mauer?«
    »Ja, sagen wir: der Idee der Mauer …«
    »… der Idee der Mauer?«
    »Vielleicht sogar in einem Gedicht, einem kleinen Lied? Ich habe seit zwanzig Jahren nicht mehr geschrieben, aber für Sie würde ich es tun.«
    Frau Schneider hatte genug gehört. »So«, faßte sie zutreffend zusammen, »kommen wir nicht weiter. Wissen Sie was?«
    »Sagen Sie’s mir!«
    »Irgend etwas, Pardon, stimmt mit Ihnen nicht. Ich weiß nicht, warum Sie mir immer wieder Sachen erzählen, bei denen ich das Gefühl habe, Sie spinnen, Sie nehmen mich auf den Arm. Vielleicht …«
    »… vielleicht?«
    »Vielleicht verstehe ich Sie nicht. Vielleicht könnte ich Sie besser verstehen, also vielleicht kann ich Sie bitten …«
    »… um alles – außer, sagen wir, daß ich auf Ihrem Symposium …«
    »… daß Sie mir mehr erzählen, ich meine, alles. Ihre ganze Geschichte.«
    »Jetzt am Telefon?« fragte ich.Wir verabredeten uns. Für den übernächsten Tag. Bei ihr. Zu Hause. Sie würde kochen, falls ich nichts dagegen hätte. Ich könne einen Wein besorgen. Warum nicht?
    So blieb mir nicht viel Zeit, das »Lob der Mauer« zu schreiben, denn das wollte ich tun. Einfach nur, um die Gesichter der versammelten Widerstandskämpfer der DDR-Wende zu sehen, wie sie sich aufregten und empörten, wie sie um Verständnis rangen, wie sie den Kopf schüttelten, wie sie »Skandal« riefen und »Unerhört!«, wie sie aus Protest den Saal verließen und wie ich ganz allein mit Frau Schneider auf dem Symposium zurückblieb – alles selbstverständlich nur für den Fall, daß ich hingehen würde.
    Ein Rieseneklat in allen Medien. Ich würde Interviews geben. Ich würde Erklärungen anbieten. Sagen, daß ich kein Fan der Mauer sei, niemals gewesen
     sei. Aber Respekt empfinden würde. Respekt vor diesem schlicht gehaltenen Bauwerk, das einen großen Teil meines Lebens – nein: nicht dominiert, nein:
     nicht ruiniert, aber doch: düpiert, ja, so würde ich es sagen, düpiert hatte. Respekt vor der Mauer, die immer da war. Vor einem Gegner, klar, den ich
     nicht vermisse. Den ich mir nicht zurückwünsche. Eine Absurdität, der Gipfel des Absurden, die Majestät des Absurden, die ich absurderweise feiern, ja
     rühmen wolle. Die Mauer, dieses kahle, graue Betonband der Antipathie, das sich durch Berlin zog. Die von allen Seiten Beschützte. Bewachte. Von Vor-,
     Neben- und Seitenmauern ihrerseits Ummauerte. Die von Peitschenlaternen Umstandene. Nicht sehr Schöne. Abweisende, Schweigsame, Dumpfe, Blöde, Argumente
     Ignorierende, Idiotische, Brutale, Mörderische, Primitive – ja eben Ärgerliche, sich aber doch über Jahrzehnte Haltende, Behauptende, souverän
     Trennende und Teilende. Sie war eine Schande, eine Schmach, okay. Aber sie war stärker als ich. Gibt das nicht zu denken, meine Damen und Herren?
    Wahrscheinlich nicht.
    L OB DER M AUER
    (teilweise nach der Melodie von »Am Brunnen vor dem Tore« zu singen)
    Wo sie war, da war Ruhe,
    Idylle, Biotop.
    Kein Schwein störte sich an dem Bauwerk,
    Das sich durch die Straßen schob.

    Architekturkritiker
    Bemängelten an ihm nichts.
    Und Anrainer erfreuten
    Sich des Durchgangsverkehrsverzichts.

    Vögel überflogen,
    Pollen querten bequem,
    Radiowellen passierten
    Die Mauer ohne Problem.

    Das Leben war hüben und drüben
    Mit allen Dingens präsent.
    Mit teils konträrer Spezifik
    Und der Mauer als Trennelement.

    Mag sein, sie war nur ein Remake
    Aus China und Jericho.
    Doch taugt diese Ahnenschaft weder
    Als Contra, noch taugt sie als Pro.

    Mag sein, sie war baulich kein Highlight
    Und ästhetisch ein Solitär.
    Mag sein, sie sprach eher gegen
    Als für die DDR.

    Mag sein, die Geschichte hat sie
    Wie falsch geparkt kassiert.
    Doch bleibt die Idee der Mauer
    Davon praktisch unberührt

    Und hat Gültigkeit auf Dauer
    Und behält ihren eigenen Reiz
    Zur trennenden
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher