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Ich schlage vor, dass wir uns küssen (German Edition)

Ich schlage vor, dass wir uns küssen (German Edition)

Titel: Ich schlage vor, dass wir uns küssen (German Edition)
Autoren: Rayk Wieland
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    E S WAR IM J AHR 1988, da hatte mein Freund Bert den perfekten Plan, die DDR zu verlassen. Ausgerüstet allein mit seinem grünen Sozialversicherungsausweis, wollte er am Silvestertag sich über die VR Polen und die UdSSR nach Nordkorea durchschlagen und anschließend irgendwie nach Südkorea weiterziehen. Ein unmöglicherer Weg war schwer denkbar, aber er argumentierte, gerade weil diese Idee so phantastisch, so absurd sei, werde niemand daran Anstoß nehmen. Ja, die Grenzer in Wladiwostok würden zwischen einem Arztstempel und einem Nordkorea-Visum nicht zu unterscheiden wissen. Schon kurz hinter Moskau war er allerdings der einzige Ausländer weit und breit, der sich wunderte, wie reibungslos alles lief. Er kam bis zum Zug, der von Wladiwostok Richtung China fuhr. Es war eine Lokomotive mit einem einzigen Wagen, darin ein einziger Fahrgast, er. Als er seinen Sozialversicherungsausweis zeigte, klickten die Handschellen, und es ging zurück nach Berlin. Ins Gefängnis Hohenschönhausen. Kurze Zeit später bekam ich eine Vorladung zur Stasivernehmung.

    Die Staatssicherheit hatte in jenen Jahren nicht mehr den Ruf eines strammen, unnachgiebigen Repressionskommandos sibirischer Bauart. Eher glich sie einem in die Jahre gekommenen, leicht verschatteten, mehr oder weniger hilflos herumstolpernden Behörden-Monstrum. Der Kundschafter- und Spionage-Charme, wenn sie den jemals besessen hatte, war längst verschollen. Zwar lag die Vorladung nicht einfach im Briefkasten,doch es waren auch keine Agenten in Kunstleder-Trenchcoats aus Torbögen getreten, um mich in ein Auto mit laufendem Motor zu verfrachten. Es ging den üblichen öden, grauen Dienstweg, eine Art stille sozialistische Post, wobei die Botschaft nie verfälscht, unterwegs aber immer wichtiger und dramatischer wurde. Ein Oberst telefonierte mit einem Parteikader, der wieder mit einem anderen, der sprach mit der Leitung, die informierte dann das Sekretariat, das stellte weiter zum Chef. Irgendwann schließlich gelangten sie in der sich hin- und herwindenden Befehlskette bis an die Universität, wo ich damals studierte, ich mußte zum Direktor, und der sagte mir in einem Ernst, der auch bei der Übermittlung einer Todesnachricht nicht unterdosiert gewesen wäre, daß es da einen Termin gebe, der mich betreffe, heute, 15 Uhr, er würde mir empfehlen – es sei ziemlich dringend, warum, wisse er nicht, dürfe er im übrigen auch nicht wissen, ich müsse verstehen –, also, ja, hinzugehen.

    Bevor ich mich in der Magdalenenstraße einfand, ging ich noch einmal schnell in meine Wohnung, um dort ein kleines Expreß-Autodafé abzuhalten. Papier, stellte sich heraus, brennt nicht ohne weiteres, zumal der Ofen nicht an den Kamin angeschlossen war und bloß zu Dekorationszwecken in der Ecke herumstand. Wo früher ein Rohr zum Schornstein geführt hatte, befand sich ein schwarzes Loch. Mein Œuvre, wenn eine fern jeder Ambition im Lauf der Jahre angewachsene Zettelsammlung mit Gelegenheitsgedichten so genannt werden kann, erzeugte einen irren Qualm, der direkt ins Zimmer geleitet wurde und im Nu alles verpestete. Ich sah fast nichts mehr und rang wie in einer turbulenten Stummfilmszene mit dem Erstickungstod, bis es mir gelang, das Fenster zu öffnen. Die Schwaden stießen ins Freie, und ich bekam etwas Luft.
    Ein paar Leute hatten sich unten versammelt und schauten herauf.
    »Bei dir, da brennt’s!« rief einer.
    »Ich weiß«, sagte ich.
    Es entstand eine kleine Pause.
    »Es brennt!« wiederholte der Mann und zeigte mit dem Finger in meine Richtung.
    »Ja, der Ofen«, erklärte ich, »er zieht nicht richtig.«
    Die Schaulustigen schwiegen ernüchtert und blieben stehen, die Köpfe nach oben gereckt, ein kleiner Halbkreis unter meinem Fenster, während hinter mir weißer Rauch in den Himmel stieg.
    Nach einer Weile beruhigte sich der Zimmerschlot, der Qualm zog ab, und ich konnte den Fensterposten verlassen, um die Lage zu begutachten. Im Ofen lag ein Haufen weißgrauer Asche, dazwischen halb verkohlte Seiten, die langsam vor sich hin glommen. Ein paar Buchstaben und amputierte Wortteile zündelten noch eine Weile vor sich hin. Das Deckblatt der Mappe hatte sich in der Hitze zusammengekrümmt und wollte nicht verbrennen. Der Schriftzug war noch gut lesbar. Er lautete: »Mögliche Exekution des Konjunktivs«.

    In der Magdalenenstraße, dem Stasi-Hauptquartier, gab es vor allem Türen, Türen vor Türen und Türen hinter Türen, Türen um Türen herum, einzig aus dem
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