Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Ich schlage vor, dass wir uns küssen (German Edition)

Ich schlage vor, dass wir uns küssen (German Edition)

Titel: Ich schlage vor, dass wir uns küssen (German Edition)
Autoren: Rayk Wieland
Vom Netzwerk:
ihren Bäckerbrötchen, die noch Bäckerbrötchen waren, ihren Fahrkarten für zehn Pfennig, ihren Konsummarken, mit den überfüllten Zügen, mit den Schlangen vor Jugendmodegeschäften, vor Obst- und Gemüseläden, vor Gaststätten, vor Postannahmestellen, vor Fahrkartenschaltern, vor den Delikatessengeschäften mit den Erbsendosenpyramiden, mit ihren Feiertagsfahnen an den Fenstern, mit ihren Autobahn-Parolen, mit den selbstgebastelten Lampenschirmen, mit Eierbechern, Broilern, Schuhschränken, mit allen ihren Abkürzungen EVP, VEB, MEW, SED, KVW, GST, DSF, FDJ, NVA, Q3A, SMAD, GOL, AWG, FDGB, DTSB, MIFA, LPG, ABV, ABF, MALIMO, GÜST, mit dem ganzen Aluminiumbesteck, mit den Löchern in den Straßen, mit den im Wind summenden Telefondrähten, mit den ummauerten Blumenrabatten, mit den leeren Plätzen und breiten Straßen, mit den ausgerichteten Fernsehantennen, mit den grauen Gehwegplatten, grau verputzten Häusern, grauen Uniformen, mit den Büchern untermLadentisch, mit den Hobbykellern der Hausgemeinschaft, den Schulheften, den Präsent-20-Anzügen, den Armee-Paraden, Fackelzügen, Ferienlagern, Wandbildern, Spartakiaden, ewigen Parteitagen und Klotürbeschriftungen.
    Die Wende, würde ich, wenn ich Sportreporter wäre, sagen, war eine beispiellose Demonstration der Stärke der Sinnlosigkeit.
    Zwei Leitzordner voller Papier, Papier voller Buchstaben, Buchstaben, die nichts mehr bedeuten, Bedeutungen, die keine Folgen mehr haben, Folgen, von denen eine unüberschaubare Menge Leute betroffen gewesen sind, so oder so, eine Menge von Leuten, die inzwischen tot sind oder bald tot sein werden, die alles vergessen haben und bald selbst vergessen sind – die, die diese Papiere verlangt, beschrieben, abgeschrieben, gelesen, gegengezeichnet, weitergeleitet haben; die, die sie entgegennahmen, anforderten, prüften, lasen, auswerteten; der, um den es ging, gehen sollte, gegangen wäre, ich. Der Lauf der Dinge. Kein Grund, schwermütig herumzugrübeln. Aber doch beachtlich, wie sich das alles ergeben, aufgelöst, erledigt hat, wie nichts davon bleibt.
    Wie heißt es? Erst der Staat, dann der Bürger. Dann dürfte es nicht mehr lange dauern, bis auch ich tiefere Bekanntschaft mit der Ritterschaft der Bedeutungslosigkeit machen werde.

    Sie hatte wieder angerufen. Sie hatte gebeten, insistiert und sogar als Mensch, wie sie sagte, an den Menschen in mir appelliert. Und es wurde wieder eines dieser Telefonduelle, auf die es in meinen Gesprächen mit der reizenden Frau Schneider vom unterdrückten Untergrunddichterverein immer hinauslaufen mußte. Ich hatte nein gesagt, nein und nochmals – nein, natürlich hätte ich nicht nur nichts, sondern überhaupt nichts gegen das Symposium …
    »… wie hieß es noch mal gleich?«
    »›Dichter. Dramen. Diktatur. Nebenwirkungen und Risiken der Untergrundliteratur in der DDR‹…«
    »Dagegen spricht gar nichts. Machen Sie es. Aber ohne mich.«
    »Herr W.«, rief Frau Schneider mit der gespielten Entrüstung der gespielten Hausfrau, »das kann nicht Ihr Ernst sein! Sie sind, verzeihen Sie, unser bestes Pferd im Stall. Wer, wenn nicht Sie?«
    Bestes Pferd? Im Stall? Ich fand sie entzückend.
    »Irgend jemand vielleicht?« schlug ich vor. »Waren wir nicht alle verfolgt? Unterdrückt? Im Untergrund?«
    »Sie nehmen mich auf den Arm!«
    »Außer ich natürlich.«
    »Ja, ja«, sagte sie. »Sie waren nie ein Opfer. Der einzige, der keins war.«
    »Dazu hat es bei mir einfach nicht gereicht. Bestenfalls Kandidat. Opfer in spe. Aber wer ist das nicht?«
    »Herr W.!?« Ich spürte ihre Erregung.
    »Grundsätzlich«, sagte ich, »sind doch eh alle der gleichen Meinung. Die DDR war als Staat zur falschen Zeit am falschen Ort, zum großen Teil mit den falschen Leuten bestückt und von falschen Feinden umgeben. Auch falsch konzipiert. Auch falsch verstanden. Aber was ist schon richtig?«
    »Machen Sie hier Kabarett mit mir?« Ihre Stimme, kein Wunder, klang etwas gereizt.
    »Ohne Ihnen persönlich zu nahe treten zu wollen: Die Veranstaltung, dieses Symposium, kommt mir wie Kabarett vor. Die DDR übrigens auch. Vierzig Jahre Kabarett …«
    »Ich glaube Ihnen kein Wort. Wenn man Sie reden hört, könnte man denken, die DDR war völlig okay!«
    »So kann man es sehen: völlig okay – wenn man nicht von ihr betroffen war.«
    »Sie, Sie waren aber betroffen, und zwar sehr betroffen!«
    »Kann sein, aber das ist meine Privatsache. Und die DDR istseit zwanzig Jahren tot. Manchmal denke ich sogar, es
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher