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Ich will keine Blaubeertorte, ich will nur raus

Ich will keine Blaubeertorte, ich will nur raus

Titel: Ich will keine Blaubeertorte, ich will nur raus
Autoren: Gabriel Heim
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    »In diesen Gezeiten bin ich aufgewachsen.«
    ZÜRICH, DOLDERSTRASSE 111
    Auf dem Zürichberg hoch über der Stadt.
    Die Wohnung, in der ich mit meiner Mutter Ilse lebte, war die Belleetage einer Villa aus der Jahrhundertwende. Bis zum Kriegsende ist sie Residenz des Deutschen Konsuls in Zürich gewesen. Danach wurde das Anwesen umgebaut und in vier Mietwohnungen aufgeteilt. Ilse, die immer gut zu wohnen wusste, zog im Herbst 1948 zusammen mit ihrem Ehemann Fred Heim in die Dolderstrasse 111 ein. Das Parterre der Villa hat die schönen hohen Räume, das noble Entree und die hübsche, dicht bepflanzte Veranda zum Garten hin. Ein langer und breiter Flur teilt die Wohnung. An der einen Längswand hängt das Plakat mit Toulouse-Lautrecs »La Goulue«, gegenüber erstreckt sich der tiefe Wandschrank, in dem Schätze ruhen, Relikte eines fernen Haushalts, deren Herkunft ich nicht kenne und von denen Ilse nie Gebrauch macht. Nur einmal im Jahr bittet sie das italienische und später das spanische Mädchen, das bei uns im Souterrain wohnt, das viele Silber im Besteckkasten zu putzen. Ich erinnere mich an ein komplettes Kaffeeservice im Meissener Zwiebelmuster, zwölf königlich-blaue Sèvres-Gedecke für eine große Tafel, viel Goldrand und schwere Saucieren. Weiter feinste Tischtücher mit eingewebten Blumenmustern, Besteck in mit grünem Samt ausgelegten Schubladen. Auf Schaft und Griff derMesser, Löffel und Gabeln ist ein verschnörkeltes
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graviert. Die oberen Regale sind gefüllt mit schneeweißen Leintüchern und Kopfkissenbezügen, alle mit Monogramm und stramm gefaltet, abhanden gekommen wie die Aussteuer für eine Zukunft, die nie eingetreten ist. Jahre später, ich wohne schon nicht mehr mit ihr am Zürichberg, verkauft Ilse Besteck, Porzellan, alte Stiche und Kristall an einen Antiquar – sie ist oft knapp bei Kasse.
    Ilse ist eine elegante Frau, sie lebt in Gesellschaft. Männer schauen ihr von Weitem entgegen, Frauen beneiden sie. Ihre Lebensart verlangt den Mittelpunkt. Ganz egal ob vier oder vierzig Personen, auf Ilses Auftritt ist Verlass. Ihre Überschwänglichkeit, ihre beinahe hemmungslose Körpernähe, die sie nach Belieben zwischen Menschen stellt, um an sich zu ziehen, ihr Pepita-Schick – das ist Furore. Man ist amüsiert, man ist brüskiert. Ilse ist frivol, man ist hingerissen, man ist entsetzt. Ihr rutscht viel heraus, der Nachsatz kostet auch Freundschaften. Sie jagt jede Pointe, jeden Gag, ganz vorn immer die gespitzten Lippen, so schnell, dass kein Funke Vernunft sie bremsen kann. Kluge Männer mögen ihr Temperament, freuen sich auf Ilse Heim.
    Ilse versprüht ihre Sätze ohne Hemmungen, und wenn ihre Pointe sitzt, pfeift sie dem Satz hinterher und schnalzt mit der Zunge – ein genialer Effekt: laut, unnachahmlich, frech. In Zürich ist sie ein Unikat. Damals auch schon, Schweizerinnen benehmen sich dezent und trauen sich wenig. Ilse macht vor, wie frei und schlagfertig Frau sein kann. Ihr berlinerischer Witz mit Schnauze und Tempo, die rasante Auffassungsgabe, sie ist voller Leben und Leidenschaft. Sie weiß viel, aber nichts genau. Das ist ihr auch nicht wichtig, denn sie spielt. Und dabei geht es nicht ums Rechthaben, sondern ums Vergnügen. Das amüsiert die klugen Männer, und für die tut sie alles, denn das sind ihre wahren Helden.
    Gebildete Frauen hassen Ilse, sie können es nicht zulassen, dass die Schauspielerin mit dem leichten »Rüstzeug« die »guten Männer« auf ihrer Seite hat, flirtet und sie umschwärmt und – noch viel schlimmer – immer wieder eingeladen wird. Das ärgert die »langweiligen Frauen« der Gesellschaft, die weniger wissen, das dafür genau, und darum verhindern sie, wozu Ilse hier »geboren« ist, Conférencieuse des Zürichbergs zu sein, Kolumnistin des noch kleinen »Tout-Zürich«. Doch das wollen auch die klugen Männer der langweiligen Frauen nicht. Dazu ist Ilse ihnen zu unberechenbar, zu indiskret und so schrecklich neugierig, ein Risiko trotz Amüsement. Ilse bleibt also im Feuilleton, im Blatt wie auch im Leben. Sie sitzt im Theater und im Film, sie liest und interviewt, sie bringt Reportagen von Reisen mit und trifft Regisseure, Stars und Sternchen. Stoff genug, um im trägen Zürich der Fünfziger- und frühen Sechzigerjahre Szene und Szenen zu haben.
    Ihr Publikum ist, wo sie ist. Sie sprudelt, kann kneifen, in die Rippen knuffen, langweilige Gespräche mit zwei frechen Fragen aufdrehen. Sie ist laut und schrill, jeder soll wissen: Ich
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