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Ich liebe mich

Ich liebe mich

Titel: Ich liebe mich
Autoren: Oliver Hassencamp
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er nur in vertrautem Kreis. Wofür plagt er sich, fragt er sich. Golo will Arzt werden. Nie gab es einen Arzt in der Familie. Zurück bis 1500 Patrizier, Handelsherren, Grundbesitzer. Seit 1867 Fabrikanten, Politiker. Kein Gefühl für Tradition, der Sohn! Und Stephanie studiert Germanistik, ein Fach, das die Hoffnung auf einen Schwiegersohn aus der Branche nicht gerade hebt. Industrie und Sprache haben keine Berührungspunkte. Man könnte verkaufen, aber man kann nicht verkaufen. Dazu hat man zuviel investiert. Nicht zuletzt die Gesundheit. Man sollte eigentlich aufs Land ziehen. Seine Frau wäre dafür. Sehr dafür. Heute bleibt der Puls konstant. Selbst wenn er dran denkt. Aus dem Mittagsschlaf aber ist nichts geworden. Merkwürdig so ein Organismus. Der Chef hat Sorgen.
    Ach ja
    Der Chef erhebt sich vom grünen Ledersofa, tritt ans Fenster, sieht die Berge blau und nah, wundert sich, daß er den Föhn nicht spürt, den er immer gespürt hat, als er sich noch gesund fühlte, schaut hinunter in den Werkshof, wo ein Gabelstapler Kisten umlädt, wendig, wie ein geschickt manövriertes Riesenspielzeug. Ein Knopfdruck bringt Hilde. Der Chef braucht freundliche Gedanken und tut etwas dafür.
    »Sie waren beim Friseur, Hilde. Sehr hübsch!«
    Die Sekretärin, in Jahren der Zusammenarbeit mit Anmerkungen zu ihrem Aussehen nicht verwöhnt, befeuchtet reflexartig die Lippen; mehr um etwas zu sagen, als um etwas zu erfahren, bleibt er vor ihr stehen.
    »Hilde! Wissen Sie, wofür ich mich hier plage?«
    Zuerst zögert die umsichtige Kraft, erinnert ihn an einen Termin, akzentfrei, denn das Idiom ihrer Heimatstadt, das Münchnerische, hat sie im Umgang mit Industriekreisen erfolgreich zu verleugnen gelernt. Dann aber, als wolle sie, privat angesprochen, die Antwort akustisch absetzen, klingt das Münchnerische >R< durch, als sie sagt:
    »So dürfen Sie nicht reden, jetzt nach dem Jubiläum! Sie brauchen das Werk, Herr Direktor. Und das Werk braucht Sie. Das ist Ihr Leben.«
    Er lachte, wie ein Chef lacht, der Angestellte durch leutselige Fragestellung zu persönlichen Äußerungen verleitet hat. Auf Hilde war Verlaß. Hilde wußte über alles Bescheid. Hilde hatte immer das richtige Wort parat. Wie vor drei Wochen. Nach seiner Rede, beim Hemdwechsel im Ruheraum des Betriebsrats, hatte er, während sie ihm die Manschettenknöpfe durch das gestärkte Weiß drückte, gefragt und die Antwort bekommen, die ihn beruhigte.
    »Nein Herr Direktor, niemand hat etwas bemerkt. Bestimmt nicht. Aber an Ihrer Stelle würde ich das Rauchen aufgeben und mich untersuchen lassen!«
    Der Chef nickt vor sich hin.
    »Ja, das ist mein Leben. Und was ist jetzt mit den Leuten aus Moskau?«
    Vor vierzehn Monaten war ein Wunsch der Russen, anläßlich einer Studienreise einige namentlich aufgeführte Industriebetriebe zu besichtigen, vom bundesdeutschen Industrieverband übermittelt worden. Es würden, so hieß es, nur Fachleute aus der Branche kommen, um sich zu informieren. Im Falle des Einverständnisses sei die Sowjetbotschaft in Rolandseck zu verständigen und wolle man gleichzeitig eine Programmzusammenstellung beifügen. Das war prompt geschehen. Die Sowjetbotschaft hatte nicht geantwortet, was indes niemanden überraschte. Fünf Monate später war dann im Werk ein Brief aus Moskau eingetroffen. Darin hatte ein gewisser Wassilij Fjodorowitsch gebeten:... der Herr Alleininhaber möchte die Güte besitzen und dem Delegation helfen, das Pässe und Visa zu erreichen...
    Sofortige Rückfrage in Moskau: Wie solle man helfen? Man stelle Meßgeräte her, aber keine Pässe. Der Chef hatte mit keiner Antwort gerechnet und war nicht enttäuscht worden. Erst Wochen später, als er auf einem Empfang mit Herren des Auswärtigen Amtes über die seltsamen Usancen der Russen sprach, stellte sich heraus, was der Genosse Fjodorowitsch gemeint hatte: Ohne Hilfe des Werks konnte die Delegation tatsächlich nicht kommen; das Außenministerium in Bonn läßt sich, aus verschleppter Gewohnheit oder falscher Vorsicht, bei Einreisegenehmigungen für Russen mitunter sehr bitten. Glücklicherweise hatte er Beziehungen. Zehn Tage später war alles genehmigt. In einem Luftpostbrief teilte er dies dem Genossen Fjodorowitsch mit. Postwendend kam das Antwortschreiben, zur Abwechslung an seine Privatadresse, in welchem ein nicht zu entziffernder Genosse mitteilte, die Studienreise habe sich zerschlagen. Monate später — er hatte die merkwürdige Korrespondenz längst vergessen
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