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Ich liebe mich

Ich liebe mich

Titel: Ich liebe mich
Autoren: Oliver Hassencamp
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I

    Im grünen Domino sitzt er in seiner Loge an der Tanzfläche und fühlt sich den Puls. Ein weißer Seidenhandschuh senkt sich über die Selbstbesorgnis. Seine Frau löst die an falscher Stelle tastenden Fingerkuppen vom Handgelenk.
    »Denk nicht immer dran! Schau die vielen hübschen Mädchen.«
    »Die ganze Nacht hab ich kein Auge zugetan!«
    Seine Frau lächelt.
    »Daß wir uns da nicht gesprochen haben? Dreimal bin ich aufgestanden, um nach dir zu sehen.«
    Er antwortet nicht. Mit einer Kopfbewegung zur Tanzfläche sagt seine Frau:
    »Sieht die nicht reizend aus? Flirte ein bißchen!«
    »Ich denke nicht daran, mich lächerlich zu machen.«
    »Letztes Jahr hast du auch geflirtet. Die Damen schauen heute noch ganz mild.«
    Er überlegt, wie sie das gemeint haben könnte.
    »Sitz nicht da wie festgewachsen. Tu was für deinen Kreislauf!« sagt sie.
    »Damit ich wieder einen Schweißausbruch bekomme?«
    »Du sollst ja nicht mit mir tanzen. Schau dort, der blonde Rauschgoldengel mit den langen Beinen!«
    Er schaut.
    »Wo sind eigentlich die Kinder?«
    »Zu Hause. Sie hassen es, wenn wir uns maskieren.«
    »Warum weiß ich das nicht?«
    Sie lacht.
    »Golo findet, in unserem Alter sei Fasching eine Verwechslung von Sexualität mit Humor.«
    Dafür studiert dein Sohn ja Medizin!«
    »Und deine Tochter mag nicht mit älteren Herren tanzen müssen.«
    »Ach ja. Ich wollt, ich war zu Haus!«
    »Ich auch.«
    Der Rosenmontag galt als Höhepunkt des Münchner Faschings. Wie jedes Jahr hatte man sich getroffen, bei Freunden im Herzogpark, in Harlaching, in Bogenhausen, hatte sich in Stimmung genippt und war gemeinsam zum Ball ins Deutsche Theater gefahren.
    Man saß in reservierten Logen, bestellte Champagner und winkte Freunden, die in reservierten Logen saßen. Die Herren träumten sich über die Brüstung zu übersichtlich aufgezäumten Mädchen und mißbilligten die von Jahr zu Jahr wachsende Enthemmung. Die Damen schlugen, brav an ihre Männer geschmiegt, die Augen zu anderen Männern auf, folgten ihnen zur Tanzfläche, lachten dankbar über glanzlose Sätze und erholten sich im rhythmischen Gedränge von elf Monaten Distanz. Während manche der Herren sich für Stunden verloren, kehrten die Damen regelmäßig zu ihren Handtaschen zurück, puderten sich die Nase, wechselten atemlos Tänzer oder setzten sich auf ihren Platz und hofften, gut sichtbar, auf das nächste Abenteuer.
    Eine Empiredame stellte ihrem angetrauten Apachen einen Piraten vor, stahl sich mit einem Scheich davon, tauchte unter, tauchte wieder auf, an der Bande, vorbei am Ehemann, fröhlich plaudernd in lockerem Griff. Der Rosenmontag galt als Höhepunkt des Münchner Faschings.
    Er, im grünen Domino, fröstelt. Seine Frau tanzt nur gelegentlich. Mit Freunden, Bekannten. In Sichtweite. Sie winkt herüber, mit dem Piraten, den die Empiredame zum Umtausch an den Tisch gebracht hat. Er winkt zurück, sitzt allein in der Loge. Seine Hand hat den Puls gefunden. Seine Gedanken sorgen für Beschleunigung.
    Mein Gott — was ist das nur — warum kann ich meinen Organismus nicht unter Kontrolle halten — ich beobachte mich doch so genau Er schaut hinauf in die flittrige Dekoration aus Gold- und Silberpapier. Ein Schlagzeugsolo erschwert das Lauschen nach innen. Besonders die Pedaltrommel irritiert beim Zählen der Pulsschläge. Vor siebzehn Tagen haben die Beschwerden angefangen, mitten in seiner großen Rede, draußen im Werk. Auf einmal waren das Hemd naß, die Honoratioren für endlose Sekunden fern und verschwommen und noch sieben Seiten Manuskript durchzustehen. Aber niemand hat etwas bemerkt. Sogar der Landesvorsitzende war beeindruckt. Es war die Hölle. Das Würgen im Hals, die Angst, das nächste Wort nicht mehr zu Ende sprechen zu können, das rasende Herz, der Druck in den Ohren.
    Zuerst hatte er an eine Vergiftung geglaubt, einem Fisch die Schuld gegeben. Aber die Symptome wechselten, kamen und gingen zu jeder Tages- und Nachtzeit. Besonders enervierend war es, wenn er sich sozusagen wohl fühlte und jeden Augenblick mit einer neuen Attacke rechnete. Und die Nächte! Er wußte nicht, ob er mehr litt, wenn er wachte oder wenn er schlief. Was doch ein angeblich mit Vernunft begabter Mensch zusammenträumen kann! Statt den Tag wiederzukäuen — Sitzungen, Entscheidungen, Abschlüsse —, überschwemmte ihn die Phantasie, die nie seine Stärke gewesen war, mit Bildern aus dem Gruselkabinett, aus dem Hieronymus-Bosch-Bildband, den er als kleiner
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