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Ich liebe mich

Ich liebe mich

Titel: Ich liebe mich
Autoren: Oliver Hassencamp
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— meldete sich plötzlich die Sowjetbotschaft und kündigte, als gelte es die versäumte Zeit einzuholen, den Besuch der Delegation innerhalb der nächsten Tage an. Aus Moskau kabelte der Genosse Fjodorowitsch gar die genaue Ankunftszeit, widerrief sie anderntags, setzte eine neue fest, die er abermals verschob. Die Unklarheit blieb. Immerhin wurde sie jetzt höflich bescheinigt.
    Heute war ein Telefonanruf aus Rolandseck gekommen. Der Genosse Fjodorowitsch sei als Leiter der Gruppe gegen den Genossen Mamajew ausgetauscht worden. Alle damit verbundenen Verschiebungen und Änderungswünsche waren mit solcher Freundlichkeit vorgebracht worden, daß der Chef spontan zu Hilde sagte:
    »Man könnte meinen, die Sowjetunion habe sich in diesen vierzehn Monaten zu einer konservativen westlichen Industriemacht entwickelt.«
    Hilde hatte recht. Es mußte etwas geschehen. Wenn die Russen kamen, mußte er fit sein. Bewegung war gut. Und frische Luft.
    Vor einem der üblichen Empfänge hatte er im Garten Laub eingesammelt, obwohl das Erich, der Chauffeur, schon vor Weihnachten besorgt hatte. Als Gegenleistung verschonte ihn sein Organismus für ein paar Stunden mit Kapriolen. An den Nächten freilich änderte auch ganztägige körperliche Arbeit nichts. Mit der Nacht kam die Angst.
    Unterwegs aus dem Wagen ruft er Dr. Kuppenheim an. Erich, vor der Trennscheibe, ist beschäftigt.
    Ja, wie es denn so gehe? Ja natürlich auch viel Arbeit! Man wolle sich doch einmal sehen. So sei man verblieben. Vielleicht zu einem gemeinsamen Mittagessen. Morgen? Er könne ihn abholen lassen. Bei Tisch plaudere sich’s am zwanglosesten. Nun gut, schade. Dann werde man sehen.
    Den Empfang hielt er durch. Fünfzig Personen, offizielles Herumstehen mit Ministerpräsident, Erzbischof und dem nicht ortsansässigen Industriekaiser. Viel nachträgliches Lob für seine Rede, kein Würgegriff am Hals. Seine Eminenz, das Cocktailglas in der Linken, in der Rechten, nur durch den Mittelfinger vom Bischofsring getrennt, die qualmende Zigarre, zog ihn in eine historische Fensternische. Seine Eminenz vermeinte, aus der mit soviel Schweiß verbundenen Rede unlängst gewisse »richtungweisende Ansätze« herausgehört zu haben. Der Redner habe eine zeitgemäße Brutus-Taktik angewendet: auf modernste Weise an alten Werten festzuhalten, ganz unpathetisch, technisch-kühl, Neues dagegen temperamentvoll als noch nicht ausgereift darzustellen, und seine eigenen psychologisch aufgeputzten Beweise somit ad absurdum geführt. Das sei verdienstvoll.

    Zum Empfang der russischen Delegation hatte er einen kleinen Imbiß arrangieren lassen. Auch Bonn hatte in die Taschen der Bürger gegriffen, um den Delegierten mit gutem Service zu imponieren. Eine mannequinhafte Dolmetscherin kam, eigens vom Auswärtigen Amt geschickt, eine Fachkraft also, trotz ihrer Jugend versiert genug, um aus Bemerkungen der Gäste untereinander nützliche Informationen zu gewinnen. Vermutlich würde sie ihrer Dienststelle einen Stimmungsbericht ausarbeiten müssen.
    Nachdem die Gäste ihre Mäntel abgelegt hatten, bat sie der Chef zum Büfett. Unerwartet winkte der Delegationsführer ab; die Dolmetscherin übersetzte:
    »Herr Mamajew sagt, die Verpflegung in russischen Flugzeugen sei so hervorragend, daß er und seine Genossen für den Rest des Tages gesättigt seien.«
    Die sechs Herren Genossen, Professoren und Ingenieure verschiedenster Fachgebiete lächelten mildernd, während Mamajew, der den Parteifunktionär nicht leugnen konnte, seinen Gastgeber ansah, als sei das Werk bereits zum Abtransport nach Rußland verladen.
    Wie abgemacht, sollte die Besichtigung, beim Pförtner beginnend, alle Produktionsphasen und Abteilungen bis zum Versand umfassen. Der Werksjargon unterschied zweierlei Führungen: den >Kleinen Weg<, der etwa eine Stunde dauerte, und die doppelt so lange >Sozialtour< auf der, außer Produktionsablauf, Kantine und Unfallstation, auch die komplette Verwaltung, Küche, Kühlhaus, die Werkswohnungen sowie alle Annehmlichkeiten für die Arbeitnehmer gezeigt wurden.
    Beunruhigt, weil seine Beschwerden ihn nach qualvoller Nacht gänzlich verschonten, hatte der Chef kurzfristig auf den Kleinen Weg umdisponiert. Er mußte sich schonen, wenn auch schweren Herzens, wäre es ihm doch ein Vergnügen gewesen, zu zeigen, wie beispielhaft sozialistisch ein kapitalistisches Arbeiterdorado sein kann.
    Bald gab es Schwierigkeiten. Das versierte Sprachmannequin vom Auswärtigen Amt
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