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Ich liebe dich nicht, aber ich möchte es mal können

Titel: Ich liebe dich nicht, aber ich möchte es mal können
Autoren: Tessa Korber
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So viel vermeintliche Unvernunft machte mich rasend. »Gib was ?«, herrschte ich ihn an. Als Ergebnis eines solchen Wortwechsels ließ er sich einmal herab zu sagen: »Gib gelb.« Endlich begriff ich: Er meinte die Banane in der Obstschale! Er kannte das Wort ›Banane‹, ich hatte es ihn schon sagen hören. Also wollte ich ihn dazu zwingen, es erneut auszusprechen. Mehr als »gib Ba« allerdings bekam ich nicht angeboten, unter Geschrei und Tränen. Mit dem, was ich heute über autistische Sprachstörung weiß, erscheint mir das alles klar und typisch. Damals aber begriff ich einfach nicht, was da vorging. Ich schrie ihn an, er schrie zurück. Heute tut mir das alles so leid.
    Lange hatte ich auf dem Standpunkt gestanden, dass Jonathan sprachlich so überdurchschnittlich begabt war, dass es ungerecht gewesen wäre, Simon mit ihm zu vergleichen. Irgendwann aber verglich ich ihn mit Gleichaltrigen. Der Unterschied war nur nicht so leicht zu fassen; jedenfalls war es kein simpler Rückstand.
    Eine wohlmeinende Freundin, der das stumme Kind in meinem Schlepptau unheimlich war, lieh mir ein Buch über Spracherwerb. Doch wenn ich die Wortschatzliste dort studierte: Das konnte er alles, daran lag es nicht. Wenn ich glaubte, er könne keine Sätze bilden: Just sprach er einen, und ich war wieder beruhigt. Dass er nie, niemals über etwas sprach, was nicht unmittelbar zwischen uns geschah, er also die Frage, wie es denn vormittags im Kindergarten gewesen sei, nie beantwortete, nun gut, das taten viele Kinder nicht. Fast alle Mütter um mich herum klagten darüber, dass sie bei entsprechenden Fragen mit einem lapidaren »schön« abgespeist würden.
    Trotzdem war es bei uns auf schwer fassbare Art anders: Es kam wirklich nie das Geringste, wenn ich wissen wollte, wie es ihm ging oder wozu er Lust hätte. Entweder sagte er gar nichts, oder er antwortete ausweichend. »Ich bin der Gromit« (ein Comic-Hund) war wochenlang seine Standardantwort auf alles, bis ich aufhörte, mit ihm ins Gespräch kommen zu wollen.
    Wenigstens formulierte er nach der ersten großen Krise seine Bedürfnisse wieder, auf rudimentäre Weise: »Hunger«, »Darf ich die Ente sehen?« (ein Playstation-Spiel mit Donald Duck), »Spiel mit mir« oder »Ich will das Nemo-Puzzle«. Der überwiegende Anteil seiner Äußerungen bestand jedoch aus Sprachspielen, die Simons strengen Regeln folgten und bei denen er rhetorische Fragen stellte, um sich über meine erwarteten Antworten oder meine pflichtschuldig gespielte Erregung über die Frage zu amüsieren. Sein Wiederholungsbedürfnis dabei war endlos. Über Wochen hinweg führten wir zum Beispiel x-mal täglich den folgenden Dialog: Ob die Sonne aufgehe oder untergehe. Oder bald aufgehe oder untergehe. Ob ich eine Katze sei oder eine Frau oder der Papa eine Katze. Ob unsere Katze fliegen könne. Ob ich fliegen könne. Simon konnte sich dabei ausschütten vor Lachen. Dann war es sehr lustig mit ihm, ich schob meine Genervtheit und meine Frustration beiseite, und wir spielten eben.
    Gerne sang er auch und ersetzte alle möglichen Wörter im Text des Liedes durch die Namen einer Gestalt aus einem Buch oder Film. Die allerneueste Entwicklung war das Spiel »Erzählen«, bei dem erst wir kleine Geschichten wiedergeben mussten, die strikt mit »Es war einmal ein Junge, und der hieß Harry« beginnen und mit »und dann ist die Geschichte aus« zu enden hatten. Dann »erzählte« Simon. Ein wirres, grammatikalisch nie korrektes Gemisch aus Textbrocken war das, die er aus seinen Büchern, Liedern und Filmen zusammenklaubte. Bis zu drei verschiedene Quellen mischte er manchmal in einem Satz. »Der Ron, es regnet seinen Lauf über dem Krankenhaus für Tiere« – so etwa klang das. Dabei marschierte er andauernd auf und ab. Für uns war das schon ein Fortschritt. Gott, was waren wir glücklich über diese Textfetzen. Es waren ja Sätze, Zweiwort-, Dreiwortsätze. Mit funktionierender Grammatik, einem altersgerechten Wortschatz, allem, was das Herz begehrte. Nur eines war es nicht: Kommunikation.
    Einmal schnappte ich mir ein Diktiergerät und lief den ganzen Nachmittag hinter Simon her, um aufzunehmen, was er da so von sich gab. Ich wollte es jemand anderen hören lassen, um nicht alleine so ratlos zu sein. Zweifellos war das, was ich da aufzeichnete,
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