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Ich liebe dich nicht, aber ich möchte es mal können

Titel: Ich liebe dich nicht, aber ich möchte es mal können
Autoren: Tessa Korber
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an diesem letzten Stückchen Normalität festzuhalten, unbedingt mitmachen wollen. Wir hatten noch jedes Jahr daran teilgenommen. Der Umzug führte durch die lauschig erleuchteten, wohlbekannten Dorfstraßen, um uns herum Menschen, die wir seit Jahren kannten, die faszinierenden Lichter tanzten, es ging sogar ein romantisches Stück lang durch den Wald, die vertrauten Lieder wurden gesungen – und Simon sang eigentlich gerne. Am Ende gab es eine Aufführung der Martinsgeschichte mit echten Pferden. Das musste ihm doch gefallen!
    Simon jedoch nahm nichts davon auf. Er quengelte nur die ganze Zeit, ich solle den Reißverschluss seines Anoraks zuziehen. Eine Weile versuchte ich ihm zu erklären, dass der bereits zu war, hochgezogen bis zum letzten Zahn. Weil das nicht fruchtete, gab ich irgendwann auf und griff mit einer energischen Geste an den Reißverschluss. »Ist er zu?« – »Ja, ganz zu.«
    Als Nächstes nahm Simon immer wieder meine Hand, um dann zu verlangen, ich solle sie loslassen, was ich tat, worauf er sie wieder nahm und so fort. Geholfen hat alles nichts. Wir kamen den ganzen Zug über weder zum Singen noch ich zum Glühweintrinken, so verstrickt waren wir in unseren dauernden Dialog. Genossen haben wir ganz sicher keine Minute.
    So war es von da an bei allen offiziellen Ereignissen, soweit ich überhaupt noch versuchte, an ihnen teilzunehmen: Simon bekämpfte mit bizarren Ritualen seine Ängste. Ich verschloss die meinen in mir, schluckte meine Aggressionen hinunter und tat nach außen so, als gehörten wir hier noch dazu.
    Im Laufe der Zeit wurde manches besser. So erlaubte Simon wieder, dass der Fernseher lief, mein Mann durfte wieder die Nachrichten sehen. Samstags guckte sogar Simon selbst mit seinem Bruder zusammen »Hund, Katze, Maus« und hin und wieder eine Tierdoku. Cartoons jedoch blieben zu Jonathans Leidwesen tabu. Ebenso die vielen Videos, die die Jungs besaßen. Simon kannte sie alle, er schleppte mir auch immer wieder die Hüllen an, aber wenn ich vorschlug, einen der Filme anzusehen, sagte er nein. Oder er stimmte zu, bekam aber Angst vor der eigenen Courage, sobald ich am Fernseher hantierte. Bei einigen wenigen gelang es uns, ihn in mühevoller Kleinarbeit über kurze, nur minutenlange Sequenzen Stück für Stück wieder an den Film heranzuführen.
    Auch Musik hörte er nach einer Weile wieder, einzelne Lieder nur, die er bestimmte, nie eine ganze CD . Es war auch hier schwer, sein Repertoire zu erweitern; immerhin schaffte ich es, dass wir Weihnachten eine neue CD mit Weihnachtsliedern hören konnten, da dem Rest der Familie die alten Songs so langsam zu den Ohren heraushingen. Wir spielten die neuen Stücke, aber immer nur nach Zustimmung und Ansage des konkreten Titels durch Simon.
    Er schaute auch gerne beim Playstation-Spielen zu, aber nur, wenn die zwei bekannten Spiele dran waren; ein neues, das Jonathan zu Weihnachten bekommen hatte, musste erst einen Desensibilisierungsprozess durchlaufen: Mein Mann kam mit Simon auf dem Arm »zufällig« zum laufenden Spiel dazu, sie blieben eine kurze Weile im Zimmer, gingen hinaus, kehrten wieder zurück, anschließend stellten wir Simon Fragen dazu. Nach einigen Tagen erlaubte er, wenngleich sichtlich nervös, dass Jonathan in seiner Gegenwart das neue Spiel spielte. Der war überglücklich, sein Weihnachtsgeschenk endlich nutzen zu dürfen.
    So erkämpften wir uns kleine Erfolge, stolz darauf, wenn wir etwas richtig gemacht und erreicht hatten – und verdrängten dabei, wie unnormal unser Leben geworden war. Getrieben von Simons Obsessionen, lief ich den ganzen Tag hindurch wie ein Hamster im Rad, dankbar für jede winzige Auszeit. Ruhe bewahren, dachte ich, Liebe geben. Zurückfinden zur Normalität, die doch eben noch da gewesen war.
    In anderen Bereichen gab es hingegen Rückschritte. Simon hatte ganz normal begonnen zu sprechen, sein Wortschatz war eher groß für sein Alter, er hatte schon ganze Sätze gesprochen, selbst die ein oder andere »weil«-Konstruktion war ihm bereits entschlüpft. Nun aber verlangte er nur noch: »Gib!« Wenn ich wissen wollte, was ich ihm geben solle, nahm er meine Hand und führte sie zu dem begehrten Objekt. Oder er wiederholte seinen Befehl. »Gib! Gib!« Was, das sollte ich mir wohl denken, aber ich musste schnell sein, denn der hysterische Anfall folgte auf dem Fuße.
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