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Ich liebe dich nicht, aber ich möchte es mal können

Titel: Ich liebe dich nicht, aber ich möchte es mal können
Autoren: Tessa Korber
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seinem heißgeliebten »Popolino«, diesem kleinen weißen Fellknäuel, mit dem er früher auf dem Sofa eng zusammengekuschelt Mittagsschlaf gehalten hatte. Es sei denn, ich war dabei.
    Heute, sieben Jahre später, verlangt er noch und wieder regelmäßig nach Popolino, will ihn »besuchen« und »haben«, manchmal mehrfach am Tag. Wenn es mir zu viel wird, dränge ich ihm die Gegenfrage auf: »Wo ist Popolino denn?«, die er korrekt beantworten kann: »Begraben.« Dennoch fragt er bald darauf wieder. Dieser Hund ist in seinem Gedächtnis und seinem Herzen, und Simons Herz ist stur. Nur seine Angst ist noch stärker.
    Simon verweigerte den Besuch des Musikgartens, dem wir bislang angehört hatten. Ich erinnere mich noch an unsere letzte Stunde, es war die erste nach den Sommerferien. Wir kamen ein wenig zu spät, und ich spürte förmlich Simons körperlichen Schock, als wir den Raum betraten. Irgendetwas an der grundvertrauten Szenerie erschreckte ihn zutiefst. Er ging zwar in den Raum hinein und hielt die Stunde durch, aber ich fühlte, er zwang es sich ab, es ging ihm nicht gut; danach war er fieberheiß. Ein weiteres Mal betrat er den Raum nicht. In der Woche drauf scheiterten wir bereits auf der Treppe der Volkshochschule. Ich saß neben meinem schreienden Kind und fragte mich, was los war.
    Eine Antwort fand ich nicht, ich ging in Verteidigungsstellung. Wer behauptete, dass mit unserem Kind etwas nicht stimmte, der sollte erst mal dafür sorgen, dass es in diesem überfüllten Kindergarten nicht gemobbt wurde. Dort hatten sie just ihre drei Gruppen auf zwei reduziert, kein Wunder, dass die mit 27 Kindern pro Gruppe überfordert waren. Die sahen vermutlich gar nicht, was da alles schieflief. Vermutlich war unser Kind das Opfer mangelnder Aufsicht und übler Schikanen, zugefügt von böswilligen Mitkindern. Ich konnte kaum noch durchs Dorf gehen, ohne Kleinkinder in Simons Alter misstrauisch zu betrachten.
    Ãœberhaupt, was hieß das schon: Das Kind spielt nicht »Fädelraupe«? Das wollten wir doch mal sehen.
    Simons Vater setzte sich mit ihm hin, erzwang seine Aufmerksamkeit und spielte das Spiel mit ihm durch. Es war eine Qual für alle Beteiligten, für das widerstrebende, gänzlich uninteressierte Kind, für die hilflos lauschende Mutter und vor allem für den Vater, der bis zum Abwinken wiederholte: »Würfle, Simon, jetzt würfle doch. Wo ist der Würfel? Ja, da. Das ist der Würfel. Jetzt nimm den Würfel, nimm ihn. Wirf ihn. Nein, werfen, richtig werfen. Hierher werfen. Ja. Was ist das für eine Farbe, Simon? Was ist das für eine Farbe? Du kennst die Farben doch, Simon! Nimm die richtige Farbe. Nimm sie. Simon, nein, nicht aufstehen.« Er holte das flüchtende Kind wieder und wieder zurück, im Schweiße seines Angesichts.
    Simon konnte die Farben übrigens. Bei der U-Untersuchung, bei der die Farbkenntnisse abgefragt wurden, irgendwann im Vorjahr, als die Welt noch in Ordnung war, hatte er nicht nur die erwarteten Farbtöne benennen können, sondern als Dreingabe noch rosa und lila. Alle hatten gelächelt und waren zufrieden gewesen.
    Jetzt lächelte ich nicht mehr. Ich stand da, mit verkrampften Fingern und angespanntem Gesicht, und verfolgte den Verlauf dieses »Spiels«. Am Ende waren Vater und Sohn erschöpft, frustriert, aber Simon hatte das verdammte Spiel gespielt. Ohne Sinn zwar für Spannung und Spielverlauf. Ohne jedes Interesse, ohne Spaß. Aber er konnte es. Beweis erbracht.
    Was wollten die also von uns?
    Im Übrigen waren wir der Meinung: Wenn er nicht will, dann muss er auch nicht.
    So wie mit der »Fädelraupe« erging es uns mit vielen Dingen. Wir bekamen beinahe täglich wahlweise empört oder besorgt mitgeteilt, was er nun schon wieder nicht konnte. Und wir mühten uns ab, das Gegenteil zu beweisen. Bis wir einsehen mussten, dass es das nicht sein konnte: sich so zu verausgaben für etwas, das bei Jonathan wie von selbst gegangen war.
    Natürlich pilgerte ich mit Simon von einem Arzt zum anderen, um das Übliche auszuschließen, von dem ich doch schon wusste, dass es daran nicht liegen konnte: Augen, Ohren. Hörte das Kind nicht gut? War der Gleichgewichtssinn gestört? Verunsicherte ihn eine starke Kurzsichtigkeit? Dass Simon in den Wartezimmern randalierte und bei den Untersuchungen nicht kooperierte, machte es nicht
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